5 Fragen an ... Michael Köhlmeier

5 Fragen an ... Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier über russische Geschichte und sein neues Buch »Das Philosophenschiff«.

Lieber Michael Köhlmeier, im Zentrum Ihres Romans steht die Lebensgeschichte einer hundertjährigen Frau. Was ist das für eine Geschichte?
Ich erzähle die Geschichte einer Familie, die von der Ausweisung betroffen war. Die Tochter, damals vierzehn Jahre alt, wird eine berühmte Architektin werden. An ihrem 100. Geburtstag lernt sie einen Schriftsteller kennen, ihm erzählt sie die unglaubliche Geschichte ihrer Vertreibung aus Russland, die Vorgeschichte und die Nachgeschichte. Lenin und Trotzki haben 1922 den Befehl gegeben, etliche Hundert Intellektuelle, Schriftsteller, Philosophen, Agronomen, Journalisten, Historiker auf Schiffe zu verfrachten und aus der Sowjetunion auszuweisen. Trotzki begründete dies vor internationalen Journalisten damit, dass diese Personen politisch unzuverlässig seien und sich eines Tages gegen die Revolution wenden würden, und dann müsse man sie erschießen. Er bat die Weltöffentlichkeit, die Ausweisung als einen Akt der Humanität zu werten.

Gab es das Philosophenschiff wirklich?
Ja. Die Philosophenschiffe gab es wirklich. Sie wurden auch so genannt. Das Schiff in meiner Geschichte, ein Luxusdampfer für 2000 Passagiere, auf dem sich gerade einmal zehn Personen befinden, das habe ich mir ausgedacht.

Wie kam dieser Stoff zu Ihnen?
Ach, das weiß man ja nie so genau. Ich hatte ein Buch über die Russische Revolution gelesen, über den Kommunismus in der Sowjetunion und den Zerfall bis herauf zu Putin … Da war eine Notiz … nur eine Anmerkung … eine Fußnote. Der bin ich nachgegangen. Historisches Aufspüren – das habe ich gern …

Denken Sie durch die Arbeit an diesem Roman anders über die Gegenwart oder über bestimmte Phasen Ihres Lebens nach?
Aus einem gewissen Abstand erscheinen uns geschichtliche Ereignisse in einem anderen Licht. Das kann plötzlich geschehen. Wie bei einem Vexierbild. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Person Wladimir Putin … Wir sehen, der russisch-sowjetische Kommunismus, der das 20. Jahrhundert prägte, war und ist nichts weiter als die Fortsetzung einer alten Despotie. Lenin, der Umstürzler, hatte der alten Despotie nur andere Vorzeichen aufgedrückt. Stalin hat die Vorzeichen abgerissen, die unverstellte Despotie war wieder da. Es hat eine Zeit in meinem Leben gegeben, da habe ich mit dem Leninismus sympathisiert. Auch darüber schreibe ich in meinem Roman.

Was haben Sie beim Schreiben dieses Romans über sich selbst gelernt?
Ich schreibe, und dabei denke ich nicht an mich, an nichts denke ich weniger als an mich. Wenn in meinen Büchern jemand „Ich" sagt, dann steht er mir nicht näher als jede andere Person in dem Roman. Erst viel später, manchmal Jahre später, verbinden sich Personen aus Romanen mit meiner Biografie.

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