5 Fragen an ... Norbert Gstrein

5 Fragen an ... Norbert Gstrein

Lieber Norbert Gstrein, vermutlich handeln gute Romane von vielen verschiedenen Dingen und stellen viele verschiedene Fragen. Aber gibt es für Sie dennoch ein Zentrum von Der zweite Jakob, einen einzigen Satz, mit dem man das Buch beschreiben könnte?
Und wenn ich nein sage? Wenn ich das mache, was angeblich Martin Amis einem Interviewer gegenüber auf die Frage gemacht hat, worum es in seinem Roman gehe? Er soll ihm wortlos das Buch in die Hand gedrückt haben, und natürlich hatte er recht damit. Ein Roman ist ja neben vielem anderen immer auch die verwegene Behauptung, dass jeder einzelne Satz in ihm notwendig sei. Mein Roman hat lange den Arbeitstitel Letzte Liebe getragen. Das klingt nicht unbedingt nach einem Titel von mir, und wie ich darauf gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich habe dann jedenfalls dreihundertfünfzig Seiten geschrieben, in denen es um ganz etwas anderes geht, aber immer unter dem Vorzeichen, es würde um die letzte Liebe gehen, bis ich schließlich fast ganz am Ende ein Kapitel geschrieben habe, in dem es genau darum geht.

Die Hauptfigur Jakob denkt immer wieder über bestimmte Ereignisse in seinem Leben nach, bei denen er sich womöglich falsch verhalten hat. Ist solches Schuldempfinden sein individuelles Problem, oder was erzählt es über ihn hinaus?
Es ist ein allgemeines Problem, vielleicht nicht in dieser Intensität, aber prinzipiell, weil sich auch scheinbar wohlüberlegte Handlungen im nachhinein als gar nicht so wohlüberlegt herausstellen. Bei Jakob spitzt es sich vor allem in einer Situation zu, in der er sich an der mexikanisch-amerikanischen Grenze mit einer mexikanischen Fabrikarbeiterin einlässt. Das ist genau zu der Zeit, in der dort eine Serie von grausamen Frauenmorden stattfindet, und er sieht in den Augen der jungen Frau, dass sie ihn für einen möglichen Mörder hält. Dieser Blick verfolgt ihn in den Jahren darauf. Er macht ihn zu einem Vertreter aus dem reichen Norden, der sich an einem Mädchen aus dem armen Süden vergangen hat, aber wirklich in die Knochen geht ihm die Geschichte erst, als er in einer Krise mehr vom Leben seiner eigenen Tochter erfährt.

Auch in diesem Roman von Ihnen zieht es also jemanden in die Ferne, in die USA. Hat sich Ihr Schreiben über Amerika durch die zunehmend erbitterte amerikanische Politik der letzten Jahre verändert?
Es ist ja in den letzten Jahren immer wieder gesagt worden, der gerade abgewählte amerikanische Präsident lasse in seiner ganzen Schrecklichkeit so manchen seiner auch schrecklichen Vorgänger als weniger schrecklich erscheinen. Vielleicht hat mir das erst möglich gemacht, den nach seinem Mittelinitial "W" benannten "Dubya" in meinem Roman auftreten zu lassen, damals Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch Gouverneur von Texas, später der dreiundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten. Jakob trifft bei einem Festbankett in El Paso auf ihn, und obwohl er mit seiner Politik nichts anfangen kann, weigert er sich nach diesem persönlichen Treffen in die Diffamierungschöre einzustimmen, wie es heimische Medien von ihm als Schauspieler mit der größten Selbstverständlichkeit verlangen.

Was meinen Sie, was soll große Literatur bewirken?
Sie kann ein anderes Bewusstsein vom spezifischen Gewicht jedes Lebens erzeugen. Sie zeigt Figuren selbst in ihrer Kleinheit und mit ihren Schwächen als Menschen und lässt auch ein vermeintlich nicht gelebtes Leben wie ein gelebtes aussehen. Sie kann einen daran erinnern, dass leben etwas ist, das man gründlich machen sollte, bevor es zu spät ist – was in seinem Anspruch bescheidener klingt, als es gemeint ist. Denn wenn alle sich daran hielten und dazu noch gründlich über das Wort "gründlich" nachdenken würden, wäre es fast schon ein politisches Programm.

Eigentlich würde man ja immer fragen, was beim Lesen aus einem vollendeten Roman zu lernen wäre – aber drehen wir es doch einmal um: Gibt es etwas, das Sie beim Schreiben des Romans gelernt haben, das Sie heute anders sehen als vor den ersten Zeilen?
Ich habe vorher schon geahnt, dass ich besser einen bestimmten Abstand zu meinen Figuren halten sollte, insbesondere zu dem Ich des Erzählers, das ich bin und das ich nicht bin, und weiß es jetzt genauer. Dieser Erzähler ist nach dem Jakob meines ersten Buches benannt. Dessen Titel war Einer, und ich kann nicht sagen, ob ich vor den neuen Roman das klassische "Ich ist ein anderer" oder nicht doch eher "Ich ist kein anderer" setzen würde. So viel zu meiner eigenen Verwirrung und der Verwirrung aller Leserinnen und Leser. Was ich auf jeden Fall gelernt habe, ist Handwerkliches. Das lernt man immer und kann sich so einbilden, man sei auf einem zielsicheren Weg zum perfekten Roman, selbst wenn es erst der nächste oder übernächste sein sollte oder am Ende der, den man nicht mehr schreiben wird. Ich weiß jetzt zum Beispiel, dass tatsächlich meistens die drei Punkte schon reichen, um den Kreis auch sichtbar zu machen, den man durch drei beliebige Punkte legen kann. Vielleicht braucht es noch einen vierten, fünften oder sechsten, aber jeder weitere ist dann schon einer zu viel und verdirbt die ganze Sache. Es ist ein großes, jedoch weit verbreitetes Missverständnis, Genauigkeit entstehe aus einem Mehr und Mehr und Mehr.

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