5 Fragen an ... Hans Platzgumer

5 Fragen an ... Hans Platzgumer

François, der Protagonist Ihres neuen Romans Drei Sekunden Jetzt, ist ein Findelkind. Was macht es, Ihrer Ansicht nach, mit einem Menschen, seine Wurzeln nicht zu kennen?
Es hinterlässt wohl eine Ungewissheit und ein Suchen, das immer bleibt und Teil der Persönlichkeit wird. Hinzu kommt der traumatische Moment, an dem der Findling erfährt, dass er einer und nicht das ist, was er meinte zu sein. Sein bisheriges Leben war eine Täuschung, sein Ursprung ist die Ausgestoßenheit. François wird an seinem zehnten Geburtstag mit dieser Tatsache konfrontiert. Eine solche Zerschmetterung kann wahrscheinlich nur durch Liebe gekittet werden. François erfährt in seiner Adoptivfamilie beides, Liebe und Hass.
Nun kann das Ungewisse jedoch als Chance verstanden werden. Es gilt, den Perspektivenwechsel zu meistern. Durch die unbekannten Koordinaten steht einem Findling ja eine bodenlose Freiheit zur Verfügung. Das graueste Leben ist nicht jenes, das seiner Herkunft entrissen ist und eine vage Zukunft ansteuert, sondern jenes, das an der Herkunft klebt und dessen Schritte bis zum Tod vorgezeichnet sind. François ist wie ein losgelassener Luftballon. Er hat die Erdung verloren, nach oben hin aber stehen alle Möglichkeiten offen. Mir hingegen, seinem Autor, hängt beispielsweise meine Innsbrucker bourgeoise, akademische Herkunft immer nach, ich gehe mein Leben lang an der Leine.

Entsteht aus der Wurzellosigkeit eine besonders interessante Erzählsituation?
Es schafft eine geradezu ideale Voraussetzung: François begreift sich als „weißes Blatt Papier“, das jeder beschreiben kann, wie es ihm beliebt. Er erfindet sich immer wieder neu, und dieses Sich-Entwerfen ist Hauptthema des Buchs. François ist darin ja nicht der einzige Findling. Den Protagonisten fehlt der Urhalt. Ihnen bleibt nichts übrig, als sich nach vorne auszurichten. So wird die Freiheit der Figuren zur Freiheit des Autors, und all die irren Wendungen werden möglich.
Ein Findling ist ein wunderbares Subjekt, um diese, an den französischen Existenzialismus angelehnte Geschichte zu erzählen. Das Buch trägt den Gegenwartsbegriff bereits im Titel, und auch die zwei vorangestellten Zitate sind nicht zufällig gewählt: einerseits Tschechow, der mich, als ich vor Jahren am Kirschgarten arbeitete, zum Roman inspirierte, andererseits Sartre, der die theoretische Basis bereitstellt. François entspricht praktisch dem sartreschen Für-sich. Er ist frei und unbestimmt. Mit Resignation und Leidenschaft zugleich nimmt er ohne Scheu das Leben an. Er anerkennt die Sinnlosigkeit des Seins und findet Sinn in ihr. Das Geworfensein, das wir alle in uns tragen, lernt er zu ertragen. Offenherzig geht er in das Nichts hinein, das ihn erwartet. Schon mit dem ersten Satz stellt er fest: „Einer wie ich erhält ständig eine neue Chance.“

Marseille, New York und Montreal, die Städte und ihre Eigenheiten, spielen eine zentrale Rolle in Ihrem Buch. Warum gerade diese Schauplätze? Haben Sie ein besonderes Verhältnis zu diesen Orten?
Wie bei mir üblich, hat sich im Schreibprozess von selbst ergeben, wohin es die Geschichte verschlägt, und da ich in diesen drei Städten gelebt beziehungsweise viel Zeit verbracht habe, wusste ich sehr genau, wovon ich schrieb, wenn ich meinen Helden durch die jeweiligen Straßen trieb. Wichtig war mir, die frankofone Achse von der mediterranen Hitze in die kanadische Kälte zu spannen. Und NYC bot sich nicht nur geografisch als Zwischenglied an: Es ist auch Schmelztigel, Hafenstadt und sowohl Alte wie Neue Welt – mit den daraus resultierenden Problemen. In meinen Jahren in Amerika habe ich miterlebt, wie eine ganze Gesellschaft mit der Entwurzelung leben und daraus Leichtigkeit und Flexibilität schöpfen kann, ihr aber auch die Erdung fehlt. In New York war es üblich, sich als Ire, Pole oder Italiener zu bezeichnen, auch wenn man noch nie im Heimatland gewesen war, ja meist nicht einmal die Eltern dort gewesen waren.

In Ihrem letzten Roman, in Am Rand, geht es, wenn man so möchte, um das Ende, den Abgrund, den Tod. François steht in Drei Sekunden Jetzt immer wieder vor einem neuen Anfang. Liegen Anfang und Ende näher beieinander, als uns lieb ist?
Es kann einem gar nicht lieb genug sein, wie nahe Anfang und Ende beieinander liegen. Es ist bloß eine Frage des Betrachtungswinkels, was als Ende und was als Neubeginn erkannt wird. Blickt man über den Rand hinaus, ist sogar in der Apokalypse das neu Entstehende zu erahnen. Für jeden, der irgendein Ende erreicht, ist es der größte Trost zu wissen, dass dieses Ende einen Neustart darstellt. Selbst all die Tode in Am Rand waren Lösungen. Drei Sekunden Jetzt ist das Gegenstück zum vorigen Roman. Hier wird gelebt, kaum gestorben. Nicht umsonst heißt einer der drei Teile des Buchs Am Leben. Es handelt vom nackten Leben und der Herausforderung, direkt darauf zuzugehen.

François lernt wunderbare und exzentrische Menschen kennen auf seinem abenteuerlichen Weg. Le Boche, der Deutsche, etwa verschafft ihm einen dubiosen Job, Lucy – was für eine beste Freundin, oder Anni, mit der er die wahrscheinlich kürzeste Liebesgeschichte der Weltliteratur erlebt. Welche Figur ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen und warum?
Ich bin Hals über Kopf in Anni verliebt. Und ich genieße den Halt und die Zwanglosigkeit, die eine Freundin wie Lucy anzubieten vermag. Mich fasziniert die Ungreifbarkeit und Unbegreifbarkeit von Typen wie Le Boche. Und auch an Monsieur Ackermann ist mir übrigens sehr gelegen. Ich liebe alle meine Figuren – sonst wäre es nicht möglich, ihnen Leben einzuhauchen. Ein Schriftsteller muss auch seine niederträchtigsten Gestalten lieben. Und auch im wirklichen Leben habe ich keinen besten Freund, sondern verschiedene über den Globus verstreute enge Freunde. Ähnlich verhält es sich mit meinen literarischen Figuren. Und ich hoffe, sie auch den Leserinnen und Lesern so nahe bringen zu können, dass sie sie ein Stück weit durchs Leben begleiten.

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