Die Journalistin Juliane Liebert hat mit Emma Cline über “The Girls” gesprochen:
Etwas, was selten erwähnt wird, ist, wie häufig sich junge Mädchen in ältere verlieben, so wie Evie in Suzanne in Ihrem Buch “The Girls”.
Ja, ich finde, dass Freundschaft in der Belletristik unterrepräsentiert ist. Ich wollte ein Buch schreiben, das keine Coming-of-Age-Story ist, eines, in dem sich niemand in einen Mann verliebt. Gerade Freundschaft zwischen Frauen ist sehr interessant. Wir wissen, wie romantische Beziehungen auszusehen haben, wie Familie auszusehen hat. Bei Freundschaft ist das anders.
Naja, aber Evie wird im Verlauf des Buches das Herz gebrochen, sogar zweimal: Einmal, als Suzanne sie dem Typen „verkauft“ und einmal, als sie Evie aus dem Auto wirft, als sie auf dem Weg zu den Morden sind. Ist Verraten werden Teil der Adoleszenz, auch abseits der Romantik?
Enttäuschung ist der wichtigste Moment der Adoleszenz. Der Moment, in dem man begreift, dass die Welt kompliziert ist. Du denkst, du könntest kompromisslos leben, und die Welt würde rein bleiben. Die Welt ist grau, voller Wirrungen und Betrug. Das zeigt sich auch in ihrem Verhalten ihren Eltern gegenüber, sie ist in dem Alter, in dem sie merkt, dass ihre Eltern Menschen sind und keine mythischen Figuren.
Die einzige Romanze mit einem Mann, die vorkommt, ist sehr weit weg davon, wie in Frauenliteratur normalerweise über Romantik geschrieben wird. Sie ist hässlich und verworren und beliebig.
Ich wollte gegen die hygienische Vorstellung von Liebe vorgehen. Nicht nur Liebe, auch Gruppen, den Körper. Gerade junge Mädchen werden oft nur als Symbole dargestellt, Symbole der Unschuld, und ich mag, dass die Mädchen im Buch dreckig sind und aufsässig. In der Kurzgeschichte, die jetzt erschienen ist, geht es um eine Farm, es gibt einen Bruder und eine Schwester und deren Freund. Es geht um Familie. Ich interessiere mich für die Oberfläche von Dingen, die wir als sicher wahrnehmen. Familie, Heimat, und das Unausgesprochene, was sich dahinter verbirgt.
Die Mädchen, die vom Sektenführer Russell missbraucht werden, wollen das in dem Buch in gewisser Weise. Ein schwieriger Ansatz.
Ja, das stimmt, darüber habe ich viel nachgedacht. Ich wollte, das jede einzelne Person in dem Buch moralisch korrumpiert ist. Ich wollte auch, dass es keine Moral gibt, keine Lehre. Ich glaube, niemand lernt in diesem Buch irgendetwas. Es gibt so oft die Erzählung, dass Menschen schwierige Dinge durchleben und daran wachsen. Niemand in “The Girls” wächst an den Ereignissen. Ich frage mich manchmal, ob Evie ein guter Mensch ist. Ich denke, so oft ist man einfach nur zufällig ein guter Mensch. Man kommt nie in die Situation, die einen über die Grenze treibt.
Sie haben die eigentlichen Mordszenen gar nicht beschrieben. Sie haben sich gedrückt. Das ist auch eine der Stellen, wo das Buch nicht psychologisch glaubwürdig ist. Es bleibt unverständlich, wie die Mädchen innerhalb von zwei Wochen auf einmal zu grausamen Mörderinnen werden konnten.
Deswegen wollte ich einen Charakter, der nur am Rande steht. Es ging mir nicht darum, diesen einen Gewaltakt zu rechtfertigen, ich wollte die alltägliche Gewalt beschreiben, mit der man als Frau zu kämpfen hat. Es ging mir nie darum, über Menschen zu schreiben, die jemanden umbringen. Das war nicht mein Projekt. Das müsste man viel besser erklären und einleiten. Ich fand es viel interessanter, die Perspektive einer Mitläuferin zu schildern.
Der Perspektive eines Mitläufers oder Außenseiters erzeugt immer ein gewisses Mysterium. Was man nur fast sieht ist viel interessanter, als das, was man wirklich erlebt.
Absolut.
Denken Sie, es sollte mehr Romane über Mitläufer geben?
Es gibt ja einige, wie “Der große Gatsby” zum Beispiel. Das ist ein Mitläuferbuch. Aber ich mag sie. Die Erzählung ist näher an der Wahrheit, wenn die Person nicht involviert ist.
Eine der Zeilen des Buches, die mir in Erinnerung geblieben sind, ist, als Evie Suzanne zum ersten Mal begegnet – sie sagt, sie habe begriffen, „dass ihr eigenes Gesicht nur eine offene Frage ist, während Suzannes Gesicht sich all seine Fragen selbst beantwortet“.
Das Herz des Buches ist der Wunsch, gesehen zu werden. Eines der Hauptmotive ist deswegen das „Sehen“. Die Großmutter, die Schauspielerin ist, deren Beruf ist, gesehen zu werden. Suzanne, die von Evie gesehen wird, während sie Evie nicht sieht. All diese Arten, wie Menschen gar nicht in Beziehung zueinander stehen, sondern nur in Projektionen leben. Es geht auch darum, dass junge Mädchen in der Welt nach Vorbildern suchen, wie sie „Mädchensein“ korrekt performen sollen.
„Gesehen werden“ ist eines der wichtigsten Themen der jetzigen Jugend. Ich habe gestern gelesen, dass sich Teenager angezündet und von Brücken geworfen haben, um Likes zu bekommen. Facebook, Instagram, ganze Industrien beruhen darauf.
Ja, absolut. Das ist, was an der Geschichte universell ist. Das hat nichts mit 1969 zu tun oder Kommunen oder sogar den Charakteren. Das Bedürfnis, gesehen und anerkannt zu werden und wie wir uns darstellen, um geliebt zu werden.
Es gibt eine Szene, die viel gruseliger ist als die Mordszene: Als der junge Mann das Mädchen zwingt, sich vor seinem Kumpel zu entblößen.
Das ist die wirkliche Gewalt im Buch. Natürlich sind die auffäliigste Gewalt im Buch die Morde. Aber was ist mit dieser viel trivialeren Art von Gewalt? An der das Mädchen ja beinahe freiwillig teilnimmt?
Geht es Ihnen um den Unterschied zwischen der Gewalt, die täglich skandalisiert wird, wie Krieg, Terror, und dieser privaten Gewalt, die einfach unterläuft?
Ja! Ich interessiere mich für weibliche Gewalt. Wir finden Gewalt, die von Männern ausgeht, immer noch viel weniger beunruhigend, während von Frauen erwartet wird, dass sie ihre Aggressionen gegen sich wenden. Es ist viel bequemer, wenn sie sich ritzen oder Essstörungen entwickeln. Ich wollte, dass die Frauen die Täter sind. Ich denke, es gibt keine 100-prozentigen Opfer. Ich wollte diese Narrative entfernen: Was Trauma ist, was ein Opfer ist, und mich dem widmen, was unter der Oberfläche geschieht.
Und, was ist Ihre Lieblingsmörderin?
Oh Gott, nein! Ich hab keine Lieblingsmörderin! (lacht) Hast du denn eine?
Nein. Das war Ihr erstes Buch, was war die erste Geschichte, die Sie je geschrieben haben?
Oh, im Kindergarten habe ich eine Geschichte über eine alte Dame und ein Maus geschrieben. Die Maus stahl ihr ihren Schmuck. Im Ende bekam sie den Schmuck zurück, sie tauschte ihn gegen Käse ein. Ich war damals noch ziemlich utopisch drauf. Oh, niemand hat mich danach je gefragt, und ich habe seitdem darauf gewartet, das zu erzählen.
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