Über die Neuübersetzung
Vera Bischitzky: Zur Neuübersetzung des Romans Oblomow
„A propos Übersetzungen. Gestern wies mich Stasjuslewitsch im Schaufenster eines Buchladens auf die Übersetzung des „Oblomow“ hin, die gerade erschienen ist. Ich kann es nicht ertragen, mich übersetzt zu sehen: ich schreibe für russische Leser, die Aufmerksamkeit der Ausländer schmeichelt mir keineswegs. Mit Deutschland haben wir keine Konvention, sonst hätte ich es nicht gestattet“
(Iwan Gontscharow 1868 aus Schwalbach in einem Brief an S. Nikitenko)
INS AUSLAND!
Wenn Übersetzer literarische Transportarbeiter sind, die ihre Fracht streckenweise auch über Drahtseile transportieren müssen, so war für die Beförderung von Ilja Iljitsch Oblomow über Sprachbarrieren, Zeit- und Ländergrenzen hinweg ein ganz besonderer Kraftakt vonnöten. Auch stand die Devise „Vorsicht – zerbrechlich!“ als Menetekel immer an der Wand, weshalb die Logistik und schließlich die Ausführung des Unterfangens viel Fingerspitzengefühl, Geduld und Ausdauer erforderte. Oblomow wollte sich ja um keinen Preis vom Fleck bewegen – schon gar nicht in die Fremde. Als sein Arzt ihm vorschlug, ins Ausland zu reisen, war er entsetzt: „‘Ich bitte Sie, Doktor, ins Ausland! Wie soll das gehen?‘ ‚Weshalb sollte es nicht gehen?‘ Oblomow ließ seinen Blick zuerst schweigend an sich selber herabgleiten, dann musterte er sein Kabinett und wiederholte mechanisch: ‚Ins Ausland!‘ ‚Was hindert Sie denn?‘ ‚Was mich hindert? Alles …‘ […] ‚Wohin soll ich denn fahren und was soll ich tun‘ fragte er. ‘Fahren Sie nach Kissingen oder nach Ems‘, begann der Doktor,‘ bleiben Sie den Juni und Juli über dort; trinken sie den Heilbrunnen; reisen Sie dann in die Schweiz weiter oder nach Tirol: zu einer Traubenkur. Verbringen Sie dort den September und Oktober …‘ ‚Nach Tirol, das hat mir gerade noch gefehlt!‘ flüsterte Ilja Iljitsch kaum hörbar. ‚Und dann in ein Land mit trockenem Klima, vielleicht nach Ägypten …‘ ‚Sieh mal einer an!‘ dachte Oblomow.‘“ Wie die Sache ausging, wissen wir spätestens, wenn wir den Roman zu Ende gelesen haben … Weder dem Doktor, noch Andrej Stolz oder Olga Iljinskaja ist es gelungen, Ilja Iljitsch zum Reisen zu bewegen. Wieso sollte unser Held also ausgerechnet mir nach Berlin folgen wollen? Ja, halbherzig hatte er bisweilen Pläne geschmiedet, doch er schob sie immer wieder auf, „teils auch deshalb, weil eine Reise für ihn eine fast undenkbare, unbekannte Großtat war. Nur einmal in seinem Leben hatte er eine Reise unternommen, mit eigenen Pferden, inmitten von Federbetten, Schatullen, Koffern, Schinken, Brötchen, allerlei gebratenem und gesottenem Fleisch und Geflügel und in Begleitung mehrerer Diener.“ So hatte seine einzige Reise ausgesehen, aus Oblomowka nach Moskau, „und diese Reise nahm er nun als Maßstab für das Reisen schlechthin. Heute aber reise man nicht mehr so, hatte er gehört: man galoppiere jetzt drauflos, was das Zeug hält!“
Wie sehr, dachte ich mir, wird er erst zurückschrecken, wenn er von unseren heutigen Fortbewegungsmitteln erfährt, vom Gedränge, der allgegenwärtigen Beschallung (er, der doch die Stille über alles liebte), der Hast auf den Bahnhöfen, den lästigen Sicherheitskontrollen auf den Flugplätzen, wo er ganz ohne die Hilfe seines Dieners würde auskommen müssen, wenn es hieße, Reisemantel, Jacke, gar Schuhe auszuziehen, von der dürftigen Verpflegung unterwegs ganz zu schweigen. Obwohl die Verpflegungsfrage wohl noch das geringere Problem wäre, darum würde ich mich schon kümmern: eine der berühmten „Riesenpiroggen“ könnte ich backen, auch „Vorräte an Konfitüren, Gesäuertem und Gebackenem“ in Reserve halten, damit ihm die Umstellung nicht allzu schwer fällt, vielleicht auch verschiedene Sorten Honigwein und Kwas, möglicherweise auch ein Fläschchen auf Johannisbeerblättern angesetzten Schnaps, den „mag er doch so gern“.
Daran sollte es nicht scheitern! Doch wie würde ich Ilja Iljitsch überzeugen können, all die Abenteuer und Unwägbarkeiten auf sich zu nehmen, die eine Reise mit sich bringt, ganz ohne Ruhelager? Wie werden es die Übersetzer des Oblomow ins Deutsche vor mir angestellt haben, den lethargischen Helden aus seinem Gehäuse zu locken? Seit der ersten Übertragung des Romans ins Deutsche 1868 von B. Horsky, die in Schwalbach Iwan Gontscharows Missfallen erregte (ob er, der die deutsche Sprache gut beherrschte, das Buch je gelesen hat, ist nicht bekannt), gab es immerhin sechs weitere deutsche Fassungen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind noch zwei dieser Übersetzungen im deutschsprachigen Raum lieferbar, von Reinhold von Walter aus dem Jahre 1925 und von Josef Hahn (die zuerst 1960 erschien) – sie ist die verbreitetste und wurde immer wieder nachgedruckt. Angesichts dieser beiden Übersetzungen, die bei allen Verdiensten manchen Mangel aufweisen, vor allem aber in Anbetracht des Geburtstags von Iwan Gontscharow, der sich am 18. Juni 2012 zum 200. Mal jährt, habe ich vor einiger Zeit den tollkühnen Plan gefasst, Ilja Iljitsch noch einmal zu einer Grenzüberquerung zu überreden und mich auf das Wagnis eingelassen, in Sachen Reisen sein Cicerone zu sein und eine Neuübersetzung zu wagen.
WARUM NEU ÜBERSETZEN?
Die Sichtung der beiden noch lieferbaren deutschen _Oblomow_-Ausgaben ergab, dass sie in vielerlei Hinsicht heutigen Maßstäben nicht mehr genügen. Auch wenn Gontscharow in seiner Erinnerungsskizze „In der Heimat“ diagnostizierte: „Diese leichtfertigen Richter bedenken nicht, dass sie in fünfzig oder hundert Jahren genauso wenig angenehm dastehen werden, wenn die nachfolgenden Generationen sie durch eine ähnliche Brille betrachten“, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele darauf eingegangen werden, worin sich die Neuübersetzung von ihren Vorgängern unterscheidet. „Die Nachkommenden sind den Vorgängern ja immer voraus“, heißt es weiter bei Gontscharow, „und scheinen klüger zu sein als diese – dank der Zunahme an Wissen, Erfahrung und Entdeckungen, die die Zeit mit sich bringt. Ob sie aber tatsächlich klüger sind, das ist die Frage. Ein kluger Mensch, der dies bedenkt […], wird sich des leichtfertigen Lachens über seine Vorgänger, die einfältig und unerfahren scheinen, enthalten.“
Den Gepflogenheiten der jeweiligen Zeit entsprechend wurde in der Vergangenheit mehr auf die Wiedergabe des Inhalts Wert gelegt, als auf die Bewahrung der sprachlichen Gestalt und der Besonderheiten des Originals. Bisweilen ging auf dem steinigen, hindernisübersäten Weg von Ost nach West bei der Transformation vom Russischen ins Deutsche die feine Ironie und der Sprachwitz des Ausgangstextes verloren. Man nahm sich allerlei Freiheiten, mitunter wurde der Autor „korrigiert“, wohl in der Befürchtung, auf den ersten Blick unlogisch Erscheinendes könnte den Übersetzern vom Leser als Fehler angekreidet werden. Vieles wurde geglättet, gefälliger formuliert, Wortwiederholungen durch allerlei Synonyme variiert, der Satzbau und die Interpunktion verändert usw. Ja, mehr noch, die populäre Übersetzung aus dem Jahre 1960 stellt an zahllosen Stellen erschreckenderweise nicht viel mehr dar als eine etwas umformulierte Abschrift der 1925-er Übertragung des Oblomow, ohne dass der Übersetzer von 1960 allerdings auf seinen Vorgänger hingewiesen hätte (viele Passagen sind wörtlich übernommen – einschließlich der darin enthaltenen Fehler).
Die Balance zwischen literarischer Qualität und philologischer Genauigkeit (wieder)herzustellen, ist demnach eine große Herausforderung – ein überaus schwieriges Unterfangen, denn einem mit den Mitteln einer anderen Sprache nachgedichteten Text darf man vordergründig ja nicht ansehen, dass er „übersetzt“ ist, gleichzeitig sollte er den spezifischen Tonfall, den Stil und die Eigenheiten des Originals zu bewahren versuchen. Um dem Leser einen Einblick in die Übersetzungsproblematik zu gewähren, soll kurz umrissen werden, welche Prinzipien der Neuübersetzung zugrunde liegen.
Satzbau und Interpunktion – Sie wurden strikt in der vom Autor gewählten Form wiedergegeben und nicht „normalisiert“. Heißt es im Original: „Sollte er zum Beispiel einen Kerzendocht stutzen oder Wasser in ein Glas gießen: er verwandte darauf die gleiche Kraft, die nötig ist, um ein Tor aufzumachen“; oder: „Schlecht geht’s mir! der Blutdruck macht mir zu schaffen“, so entspricht diese Art der Interpunktion nicht nur den Gepflogenheiten der Zeit (auch im Deutschen im 19. Jahrhundert), sie verleiht dem Nebensatz darüber hinaus eine spezifische (z.B. erklärende) Betonung und setzt einen bestimmten Akzent.
Stilistische Eigentümlichkeiten, Wortwiederholungen, Tautologien des russischen Originals wurden in der Übersetzung beibehalten und nicht gefälliger formuliert. Heißt es z.B. „künftige Perspektive“ (????? ???????????); „Sie nickte zustimmend mit dem Kopf“ (o ????? ? ???? ???????? ???????); „allerlei Werthers, die sich erschossen, erhängt oder erdrosselt hatten“ (????????????, ?????????? ? ??????????? ???????), wurde in früheren Übersetzungen nicht selten „korrigiert“. So findet sich in der Übersetzung der „Werther-Passage“ von 1925: „erschossen, erhängt, vergiftet“, in der Neuübersetzung von 1960: „erschossen, vergiftet, erhängt“, obwohl im russischen Original das Wort „vergiftet“ nicht vorkommt, die Dopplung erhängt-erdrosselt vielmehr eine der typischen Gontscharowschen ironischen Zuspitzungen ist; und wenn es heißt „das Klopfen der Messer […] fliegt bis zum Dorf hinüber“ (c? ????? […] ??????? ???? ?? ???????) – so wurde diese Formulierung beibehalten, auch wenn der Ausdruck „das Klopfen der Messer […] fliegt“ sprachlich nicht ganz korrekt ist. Er entspricht dem Original und wurde nicht gefälliger wiedergegeben, wie in früheren Übersetzungen, in denen hier „normalisiert“ wurde und „das Geklapper der Messer“ bis ins Dorf „zu hören“ ist.
Gontscharow gilt als Meister der Leitmotivik, doch es finden sich im Text auch immer wieder Wortwiederholungen, die nicht als stilistisches Mittel des Autors zu erkennen sind, sondern eher als kleine sprachliche Nachlässigkeiten gewertet werden können, auch sie wurden in der Übersetzung beibehalten. Dies mag pedantisch anmuten, da Iwan Gontscharow aber sehr langsam schrieb und seine Werke anlässlich der zahlreichen Nachauflagen immer wieder gründlich korrigierte, habe ich mich dazu entschlossen, ihn auch hier nicht „zu verbessern“.
Der Gebrauch von Fremdwörtern bzw. zum Problem der Modernisierung der Sprache – Wenn Gontscharow Fremdwörter verwendet, wie Draperie, Subjekt, Physiognomie, Shawl, Cottage, Tourist, Proletarier, Motion usw., wurden sie in der Übersetzung beibehalten, in Einzelfällen wurde auch in den Anmerkungen darauf verwiesen. Auf heute übliche Modewörter wurde strikt verzichtet und versucht, den Sprachstand der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nach Möglichkeit nicht zu verlassen (um das Zeitkolorit anzudeuten, wurden ältere Begriffe wie Tölpel, Pappenstiel, Schlafittchen usw. verwandt, die sich bereits in der deutschen Sprache des 19. Jahrhunderts nachweisen lassen und auch einige heute veraltete Begriffe wie Journal, Bureau, Blonden, Saloppe usw. eingestreut). Ebenso wichtig wie die Beibehaltung der vom Autor bewusst gewählten Fremdwörter ist ihre Vermeidung, wenn es um den Wortschatz des Dieners Sachar geht. Immer wieder wird deutlich, dass er, der ja nie eine Schule besucht hat und Analphabet ist, vieles, was sein Herr und dessen Besucher sagen, nicht versteht. Aus diesem Grund darf Sachar keinesfalls ein Fremdwort in den Mund gelegt werden, das ihm unverständlich sein muss, wie in einer früheren Übersetzung (1960) geschehen, wenn er über seinen Herrn sagt, zu ihm kämen: „??? ??????????“, was mit: “lauter Autoren“ übersetzt wurde (obwohl hier im russischen Text das Fremdwort „Autor“ nicht verwendet wird). Sachar kennt diesen Terminus nicht, deshalb verbietet es sich, das von Gontscharow gebrauchte Substantiv ?????????? (dt. Verfasser) mit „Autor“ zu übersetzen, da dadurch nicht nur die Intention Gontscharows verloren geht, sondern auch ein falscher Akzent gesetzt wird. In der vorliegenden Neuübersetzung sagt Sachar hier deshalb „Bücherschreiber“.
Hat sich ein Alltagsdetail (z.B. in der Mode) mittlerweile gewandelt, wie das im 19. Jahrhundert als Shawl bekannte erlesene quadratische oder rechteckige Umschlagtuch, so wurde für das Fremdwort ?? (schal) in der Übersetzung das damals auch im Deutschen übliche Wort „Shawl“ gewählt, um die Gleichsetzung mit einem heutigen „Schal“ zu vermeiden; das gleiche gilt auch für das aus dem Deutschen stammende Lehnwort „?????“, deutsch: Halsbinde, Halstuch, Krawatte. Hier wird in der Übersetzung das Wort „Halstuch“ verwendet, um beim Leser nicht die Vorstellung einer heutigen Krawatte zu erzeugen, sondern das Bild eines um den Hals geschlungenen Tuches entstehen zu lassen, wie es Männer um die Mitte des 19. Jahrhunderts trugen. Es ist selbstverständlich, dass sich die Übersetzung eines heutigen Deutsch bedient, dennoch galt es, jede willkürliche Modernisierung zu vermeiden, um keine falschen Assoziationen zu erzeugen. Ein weiteres Beispiel mag dies verdeutlichen: „??? ?????? ???????????? ?? ?????? ??????????? ?????, ? ?? ?? ????????, ???????? ??- ????, ??????? ?????? ?????? ?????????? ?????? ?? ??? ???? ??????? ????????.“ ??- ???? darf hier keinesfalls mit „… und zog […] einen zerknitterten Brief aus der Brusttasche …“ übersetzt werden, wie in früheren Übersetzungen (1925; 1960), denn eine „Brusttasche“ assoziiert europäische Kleidung, die der Oblomowsche Leibeigene im abgelegenen Oblomowka ganz sicher nicht trug. Für ??- ?????? erläutert das Wörterbuch: „der Raum zwischen Brust und Kleidung“. In der vorliegenden Neuübersetzung heißt es deshalb: „… kam plötzlich ein aus der Stadt heimgekehrter Bauer der Oblomows herein, der lange unter seinem Kittel herumsuchte und dann umständlich einen zerknitterten […] Brief hervorzog.“ In diesem Fall musste für „den Raum zwischen Brust und Kleidung“ ausnahmsweise zum Kunstgriff „unter seinem Kittel“ gegriffen werden, obwohl sich das Wort „Kittel“ im russischen Text nicht findet.
Russizismen: Das zentrale, unverzichtbare Möbelstück im Roman, ja das _Oblomow_-Accessoire schlechthin, ist der Diwan. Für die Wiedergabe des Wortes „?????“ (diwan) wurde das ursprünglich aus dem Persischen stammende Wort „Diwan“ beibehalten, da es das orientalische Ruhelager besser assoziiert als das heute in Übersetzungen häufiger verwendete „Sofa“. Bewahrt wurden auch russische Begriffe wie Batjuschka, Njanja, Domowoi, Banja, Piter, Nishni, Domowoi usw. Sie verleihen dem Text ein „fremdes“ Kolorit, verweisen somit auf die russische Lebenswelt, und werden in den Anmerkungen erläutert. Das gleiche gilt für typisch russische Speisen (Okroschka, Botwinja, Kulebjaka usw.), für die es im Deutschen kein Äquivalent gibt. Sie auf deutsche Gerichte zu übertragen, verschiebt den Akzent und lässt falsche Assoziationen aufkommen, weshalb sie in ihrem Originalwortlaut belassen und ebenfalls erläutert werden. Wenn in früheren Übersetzungen die familiär-umgangssprachlichen Städtebezeichnungen ????? (Piter) oder ?????? (Nishni) mit ihren exakten Namen als Petersburg und Nishni Nowgorod wiedergegeben wurden, so geht dadurch ebenfalls eine vom Autor beabsichtigte Nuance verloren.
Zum Problem der Variation russischer Vokabeln mit breitem Bedeutungsspektrum – exemplarisch dargestellt an einem zentralen Adjektiv im Roman, dem vielschichtigen russischen Wort ??????? (schiroki), mit dem unterschiedliche Nuancen umschrieben werden können. Es bedeutet u.a.: „breit; weit; groß; umfassend; ausgedehnt; gewaltig“ usw. Demzufolge müssen in der Übersetzung je nach Kontext zwangsläufig unterschiedliche Äquivalente im Deutschen gefunden werden, wie folgende Beispiele veranschaulichen sollen, bei denen sich im russischen Original jeweils das Wort ??????? (schiroki) findet: „Seine Pantoffeln waren groß, weich und breit“; „Sonst erinnerte weiter nichts an die alten Zeiten des großzügigen und friedlichen Alltags im Herrenhaus und der Abgeschiedenheit des Landlebens“; „ich habe auf großem Fuße gelebt“; „das fürstliche Schloss mit der freigiebigen Großzügigkeit des herrschaftlichen Lebens“; „unmerklich verschwindet er in den winzigen Details des gewaltigen Bildes“; „mit so offenem, unverhohlenem Blick“; „ein leuchtendes, breitangelegtes Gemälde“ usw.
Zum Begriff der Oblomowerei – Der von Iwan Gontscharow mittels eines in der russischen Sprache üblichen Pejorativsuffix (-????; -schtschina) gebildete Begriff ??????????? (Oblomowschtschina) ist seit langem Allgemeingut geworden, weit über die Grenzen Russlands hinaus, auch in den Duden hat er Eingang gefunden: „Oblomowerei, die – Betonung: Oblomowe-rei […] lethargische Haltung; tatenloses Träumen.“ Es finden sich auch Versuche, den Begriff im Deutschen als Oblomowismus, Oblomovitis oder Oblomowtum wiederzugeben, auch das Adjektiv oblomowesk lässt sich nachweisen. Trotz intensiver Überlegungen, für diese Zustandsbeschreibung ein treffenderes Wort zu finden (etwa: Oblomow-Wirtschaft; Oblomow-Syndrom), halte ich den bewährten Begriff „Oblomowerei“ nach wie vor für den angemessenen.
FEHLER BZW: IRREFÜHRENDES
Niemand ist vor Fehlern oder gelegentlicher Betriebsblindheit gefeit, auch Flüchtigkeitsfehler sind (leider) nie ganz auszuschließen. Da die Frage nach dem Sinn von Neuübersetzungen immer wieder gestellt wird, soll bezogen auf die beiden _Oblomow_-Übersetzungen von 1925 und 1960, die seit Jahrzehnten neu aufgelegt wurden, anhand einiger Beispiele auch auf dieses heikle Thema eingegangen werden. Nicht die Fehler sind das Ärgernis, vielmehr die Tatsache, dass der Übersetzer von 1960 sehr häufig ungeniert und unkritisch von seinem Vorgänger abgeschrieben hat, wie bereits weiter oben geschildert. Ein Beispiel: „‘Wenn’s ein Fremder ist, dann rührt ihn nicht an!‘ sagten die Alten, die, ihre Ellbogen auf die Knie gestützt, auf dem Erdwall vor ihren Häusern saßen“ (?? ?? ?????????) – „vor ihren Häusern“ – wurde in der vorliegenden Übersetzung zur Veranschaulichung ergänzt, um dem Leser eine Vorstellung von der Örtlichkeit zu geben, da das russische Wort für „Erdwall“ (??????a; sawalinka) den Ort – vor dem Haus – in sich einschließt. In den beiden genannten Vorgängerübersetzungen heißt es hier: „die auf der Ofenbank saßen“ (also – fälschlich – im Inneren des Hauses), obwohl bereits ein weit verbreitetes russisch-deutsches Wörterbuch von 1911 darüber Auskunft gibt (??????a – sawalinka – „eine kleine Erdaufschüttung an der Straßenseite der Dorfhäuser, gewöhnlich geglättet, auch mit Rasen belegt, zum Sitzen“). Auch ein völlig anders lautendes Wort, die „?????“ (leshanka), der legendäre, traditionelle Liegeplatz auf dem russischen Ofen, wurde in den früheren Übersetzungen mit „Ofenbank“ wiedergegeben, was – neben der unzulässigen Gleichsetzung mit dem oben beschriebenen Wort „leshanka“ – ebenfalls auf eine falsche Fährte führt, da das Wort „Ofenbank“ im Deutschen eine um den Ofen herumlaufende Bank assoziiert. Die russische ????? dagegen nimmt eine größere Fläche oberhalb eines russischen Ofens ein, eine Art gemauerte Fläche, Einbuchtung oder Koje, wo man schlafen konnte und die Wärme gespeichert wurde, weshalb sie hier mit „Platz auf dem Ofen“ oder „Ofenlager“ wiedergegeben wurde; „Inmitten dieser Sorgen tauchte immer wieder Olgas schönes Gesicht vor ihm auf, ihre flaumigen, sprechenden Augenbrauen und diese klugen, graublauen Augen“ ( ????????, ????????? ?????). Ob dem Übersetzer R. v. Walter dabei die lautliche Verwandtschaft zwischen ???????? (puschis-ty) und dem deutschen buschig einen Streich gespielt hat? Er schrieb: „ihre buschigen, ausdrucksvollen Augenbrauen“, was niemanden zu einer gehässigen Kritik veranlassen sollte. Auch das von Gontscharow erwähnte „leichtfertige Lachen“ ist hier nicht am Platze, Missgriffe unterlaufen jedem einmal, allenfalls schmunzeln könnte man ob der Vorstellung, Olga, Oblomows große Liebe, hätte so buschige Augenbrauen gehabt wie der Weihnachtsmann. Ärgerlich wird es allerdings, wenn der „Neuübersetzer“ von 1960 diese, wie unzählige andere derartiger Stellen, einfach kritiklos übernimmt und ebenfalls schreibt: „ihre buschigen, sprechenden Brauen“.
Großer Wert wurde bei der Neuübersetzung auf die Bewahrung der für die damalige Lebenswelt charakteristischen Realien gelegt, Begriffe wie Saloppe, Blonden, Berlocken usw. wurden beibehalten und im Kommentar erläutert. Ganz besonderes Augenmerk galt dem Versuch, Witz und Ironie des Originals herauszuarbeiten, wie überhaupt den Sprachrhythmus und die emotionale Färbung des russischen Originals im Deutschen zumindest anzudeuten.
Recherche und Hilfsmittel – Oblomow erregt sich über den Übereifer eines seiner Bekannten und versteht weder, wieso man sich um einer Aufgabe willen „aufregen, begeistern, brennen, keine Ruhe kennen und immer irgendwohin unterwegs sein“ sollte, noch was Gutes daran sein könnte, wenn es heißt: “Und nichts als schreiben und schreiben, wie ein Rad, wie eine Maschine: morgen schreiben, übermorgen; ob es Feiertag ist oder Sommer wird – er muß in einem fort schreiben.“ Mir dagegen ist dieses Aufregen, Begeistern, Brennen und unentwegte Schreiben Lebenselexier und das Vergilsche Diktum „rerum cognoscere causas“ unerlässliche Grundvoraussetzung meiner Arbeit. Den Dingen auf den Grund zu gehen ist ja Herausforderung und Vergnügen zugleich. So gilt es beim Übersetzen eines Klassikers zunächst der eigenen Fremdsprachenkenntnis zu misstrauen. Sprache ist einem ständigen Wandel unterzogen, Bedeutungsnuancen verschieben sich, weshalb es mir angeraten erscheint, lieber einmal mehr im Wörterbuch nachzuschlagen, vor allem jene Wörter, die man vermeintlich gut kennt. Gar nicht selten erweist es sich nämlich, dass sie zwei, drei oder mehr Bedeutungen besitzen. Über einen komischen Zwischenfall im Hause der Oblomows, bei dem Luka Sawitsch vom Schlitten gefallen ist und sich die Braue aufgeschlagen hat, heißt es: „… was haben wir damals gelacht, bei Gott. Was für ein Missgeschick! Wie er mit dem Rücken nach oben dalag und die Rockschöße zu beiden Seiten in die Höhe standen …“ Das russische „K?? ????!“ lässt auf den ersten Blick an die Interpretation „was für eine Sünde“ denken, denn unter „??“ versteht man im heutigen Sprachgebrauch nur noch „Sünde; Schande; Schuld“. Da das Übersetzen eines Textes aber nicht bedeutet, quasi mechanisch einen Buchstabenberg von einer Seite auf die andere umzuschaufeln, wird sich beim „Transportarbeiter“ schnell die Frage einstellen: wieso Sünde (wie die _Oblomow_-Fassungen von 1925 und 1960 unisono übersetzen – “Die Sünde!” heißt es dort, was keinen Sinn ergibt und den Leser ratlos auf einer falschen Fährte zurücklässt)? Wieso ist es sündhaft, vom Schlitten zu fallen? So liegt der Griff zum Wörterbuch von 1911 nahe und siehe da, als weitere Bedeutung von „????“ findet sich der Eintrag: „Unglück, Missgeschick, Unfall“. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Übersetzen – vor allem älterer Texte – ist es demnach, die eigene Kenntnis der Fremdsprache immer wieder zu hinterfragen. Mindestens ebenso wichtig wie die Beherrschung der Fremdsprache allerdings ist die Beherrschung der Muttersprache und eine ständige Selbstvergewisserung auch auf diesem Gebiet. Das Grimmsche Wörterbuch, den Wahrig, den Duden, Bildwörterbücher, Lexika und andere Nachschlagewerke, aber auch deutschsprachige Werke von Zeitgenossen des zu übersetzenden Autors häufig zur Hand zu nehmen, ist somit nicht nur kein Eingeständnis einer eventuellen Sprachunsicherheit, sondern geradezu Verpflichtung. In den „Zehn Geboten zum gediegenen Dolmetzschen“ heißt es deshalb bei Wolf Biermann (jahrzehntelang selbst Nachdichter): „Du sollst die Sprache lernen, die du schon kannst: die eigene.“ Und er liefert als zweites Gebot ein nicht minder wichtiges Verdikt: „Du sollst nur Meisterwerke übersetzen, die du liebst und bewunderst“ – eine ganz besonders wesentliche Voraussetzung, denn Liebe versetzt bekanntlich Berge. Der Annäherungsprozess an ein Werk, das Einfühlen in die geschilderten Situationen, die Atmosphäre, gar in das Seelenleben der Helden erfordert mehr als pures Sprachverständnis. Gilt es doch, Monate, ja Jahre an Zeit zu investieren, um tief in die Welt eines Autors einzutauchen und sich mit den historischen, kulturellen und auch biografischen Umständen vertraut zu machen. Ohne Liebe ist das kaum möglich, denn in der Praxis bedeutet es ja nichts anderes, als Berge von Büchern, Briefen, Tagebucheinträgen des Autors und seiner Zeitgenossen zu lesen, in Galerien Genregemälde zu betrachten, die es ermöglichen, eine anschauliche Vorstellung vom beschriebenen Alltag zu bekommen, Gepflogenheiten der Zeit zu studieren, möglicherweise auch Recherchereisen zu unternehmen, um sich anzunähern, ja, für eine gewisse Zeit gar die Gegenwart auszublenden und gedanklich in der Welt des Autors zu leben, um die im Roman geschilderten Gedanken, Gefühle und Handlungen nachvollziehen zu können. Glücksmomente stellen sich ein, wenn man bei der Arbeit am Roman unverhofft auf autobiografische Fährten stößt, aber auch Museumsbesuche können beglückend sein und dem Prozess der Nachgestaltung der heute fremden Wirklichkeit neuen Schwung verleihen. So sah ich in einer Ausstellung beispielsweise einen „Federkielschneider“ – ein heute völlig in Vergessenheit geratenes Werkzeug, das dem Satz: „Ich könnte Ihnen eine Feder zurechtschneiden“ sofort ein anschauliche Dimension verleiht. Das gleiche gilt für die Casta-Diva-Arie: erst nachdem ich sie mir angehört hatte, konnte ich den emotionalen Gehalt der entsprechenden Textpassagen wirklich verstehen.
Wenn sich die Arbeit am Manuskript schließlich ihrem Ende nähert, bleibt noch, den neu entstandenen deutschen Text (geduldige Zuhörer vorausgesetzt) durch Vorlesen auf seinen Klang und etwaige rhythmische Unstimmigkeiten zu überprüfen und ihn so lange zu schleifen, zu schmirgeln und zu polieren, bis sich eine Form einstellt, der jener des Originals zumindest ähnelt.
DIE ANMERKUNGEN ZUM TEXT
Die Anmerkungen wollen Hintergründe, Zwischentöne und kulturelle Gegebenheiten beleuchten, nicht aber Interpretation sein. Dem Hegel-Wort „Man erkennt nur, was man kennt“ folgend, wurde gelegentlich auch etwas ausführlicher auf Zusammenhänge eingegangen, die Leser des 19. Jahrhunderts sofort verstanden, die heute aber nicht mehr ohne weiteres verständlich sind. Neben der Funktion, Sachzusammenhänge oder zeittypische Realien zu erläutern, wollen sie auch Auskunft über die Persönlichkeit des Autors und seine Intentionen geben, Bezüge zwischen Leben und Werk herstellen und verstehen sich als Angebot, auch lebensgeschichtlich einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Aus diesem Grund wurden längere Passagen aus Briefen bzw. anderen autobiografischen oder biografischen Quellen zitiert, die quasi eine Folie bilden, die, auf den Romantext gelegt, das Bild um die biografische Dimension erweitern.
DANKSAGUNG
Allen, die mich während der Arbeit an diesem Buch unterstützt haben, gilt mein Dank. Sie haben mich ermuntert, ermutigt und mir bei der Lösung vieler Fragen geholfen, manchmal einfach durch einen Gedankenanstoß, wenn ich getreu der Biermann-Devise (drittes Gebot) gehandelt habe, die da lautet: „Du darfst alle sprachbegabten und hochgebildeten Freunde als Zuarbeiter ausbeuten.“ Ganz besonders danken möchte ich dem Institut für Russische Literatur (Puschkin-Haus), St. Petersburg für die fruchtbare Zusammenarbeit, Antonina Lobkarjowa (Gontscharow-Museum, Uljanowsk), Jekaterina Aralowa (Staatliche russische humanistische Universität, Moskau) und Sergej Denisenko (Institut für Russische Literatur, St. Petersburg) für wertvolle Hilfe bei der Klärung zahlreicher Verständnisfragen. Großer Dank gebührt auch meiner Familie, insbesondere Javad, für die Geduld, mich in all der Zeit der Zweifel, der Krisen, der Besessenheit von meinem Gegenstand moralisch unterstützt und überhaupt ausgehalten zu haben. Schließlich sei dem Verleger Michael Krüger und dem Lektor Wolfgang Matz gedankt, die Ilja Iljitsch Oblomow nicht nur ein schützendes, wärmendes Dach in der Fremde, sondern auch viel Zuwendung geschenkt haben, ein Umstand, der für den sensiblen Helden unerlässlich ist.
Berlin, im November 2011