Aus dem Nachwort
Über die Neuübersetzung von Krieg und Frieden
Barbara Conrad (Aus dem Nachwort des Buches)
„Was ist Krieg und Frieden? Krieg und Frieden ist kein Roman, noch weniger ein Poem, und noch weniger eine historische Chronik. Krieg und Frieden ist das, was der Autor ausdrücken wollte und konnte, in der Form, in der es ausgedrückt ist.“ Mit solch apodiktischen Sätzen beginnt Tolstoi seine Autorabsichten in Ein paar Worte anlässlich des Buchs Krieg und Frieden zu erläutern, einer Art von nachgeliefertem Vorwort zu seinem magnum opus, und um auf erste Kritiken zu reagieren. Der Artikel erschien 1868 in der Zeitschrift Russki Archiv, kurz nachdem die ersten vier des damals auf sechs Bände angelegten Buchs veröffentlicht worden waren.
In der Tat, einen Roman mit einer das Geschehen vorantreibenden Fabel oder Intrige wird man wohl kaum ausmachen in diesem breit angelegten Panorama russischen Lebens Anfang des 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Krieg und Frieden. Vielmehr eine Mischform, einen gleichsam in Patchwork-Technik komponierten Text aus erzählenden Teilen, ausführlichen Diskussionen geschichtsphilosophischer und militärtheoretischer Probleme, einer Montage von Fiktion, Reflexion, historischer Darstellung, Dokumenten und historischen Quellen verschiedenster Art sowie einem geschichtsphilosophischen Traktat. Welche Bedeutung der Aspekt der besonderen Form dabei für den Autor hatte, zeigt ein Brief Tolstois, den er vor der Veröffentlichung von Krieg und Frieden an seinen Verleger Katkow geschrieben hat. Auch dort heißt es: „Der Kern dessen, was ich sagen wollte, besteht darin, dass dieses Werk kein Roman ist und auch keine Erzählung“, und dann, in einer aufschlussreichen Ergänzung: „dass es keine Auflösung haben wird, mit der jedes weitere Interesse zerstört würde. Das schreibe ich Ihnen, weil ich Sie bitten möchte, in der Überschrift, vielleicht auch der Ankündigung, mein Werk nicht Roman zu nennen. Das ist für mich äußerst wichtig …“. Es ist interessant, dass Tolstoi nirgends eine positive Definition für sein Buch gibt – es handelt sich um „keinen Roman“, und noch dazu hat es „keine Auflösung, mit der jedes weitere Interesse zerstört würde“– und zur Erklärung nur mit einer Tautologie aufwartet: Es ist Ausdruck dessen, was der Autor so ausdrücken wollte. Tolstoi verwahrt sich gegen jegliche Kategorisierung, das Buch fügt sich keinem wie auch immer gewählten Gattungsmaßstab, es ist eben wie es ist.
Man hat sich immer schwergetan mit dem Bezeichnen dieses Kolosses, hat entweder den Autorwillen missachtet und doch von einem Roman gesprochen, oder man hat sich beholfen mit Begriffen wie Romanepos, Romanchronik oder auch Epopöe, womit aber nicht viel gewonnen war, denn man bewegte sich ja weiter in gattungsspezifischen Kategorien. Heutzutage, wenn man das Werk mit den historischen und literarischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und seinen formalen Experimenten betrachtet, wenn man an die „Echolote“, die „Dokusoaps“ denkt, sich freimacht von den starren Klischees der vielerlei Realismen – vom psychologischen über den kritischen zum sozialistischen – und wenn man vor allem auch Tolstoi befreit von all diesen Etiketten, wird man hier nicht bloß einen Roman aus der Zeit der napoleonischen Kriege suchen, sondern wird sich – bei aller Zeitgebundenheit – doch auch von der Modernität dieses Buchs, seiner ungebrochenen Aktualität, die mit Tolstois theoretischen Reflexionen zusammenhängt, fesseln lassen.
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Das Thema des Buchs ist Krieg und Frieden sowohl ganz konkret, bezogen auf die Kriegs- und Friedenszeiten der sieben Jahre von 1805 bis 1812, als auch im metaphysischen Sinne: Krieg als extreme Erscheinungsform des Lebens, an dem wie an einem furchtbaren Gradmesser das Verhalten der Menschen gemessen wird. Die Grundvorstellung, von der Tolstoi ausgeht und aus der er seine Geschichtsphilosophie entwickelt, ist die des natürlichen, unentfremdeten Lebens, dem er die Welt der Konventionen als eine Welt des entfremdeten, uneigentlichen Lebens gegenüberstellt. Während im natürlichen Leben Form und Inhalt einander entsprechen, der Inhalt immer die ihm gemäße Form erhält, gibt es in der Welt der Konventionen nie eine Übereinstimmung, bleibt die Form immer das Bestimmende. Hinter dem Gegensatz von natürlichem Leben und entfremdetem Leben steht für Tolstoi nichts anderes als der Gegensatz von Wahrheit und Lüge, wobei er unter Lüge eben das Menschengemachte, die Machinationen der Zivilisation versteht, der die Wahrheit als Natur gegenübersteht. Wenn er also Geschichte definiert als „das unbewusste allgemeine Leben der Masse Mensch“, so ist damit das natürliche Leben gemeint, dem sich der natürliche, unentfremdete Mensch fügt und in dem er aufgeht. Kutusow ist für Tolstoi ein solcher unentfremdeter Mensch, der sein Handeln am Lauf der Ereignisse ausrichtet, sich auch in seinem Altern dem Leben fügt und, wenn seine Zeit abgelaufen ist, stirbt. Napoleon dagegen verkörpert den absoluten Gegentypus dazu, er ist ein dem natürlichen Leben Entfremdeter, weshalb ihn Tolstoi auch als Schauspieler darstellt.
Im vierten Buch führt Tolstoi die Figur eines einfachen Soldaten ein, an dem er diesen Typus des natürlichen, unentfremdeten Menschen besonders deutlich macht, er ist gewissermaßen das Exempel, an dem er seine Lebensphilosophie demonstriert. Platon – es gibt diesen Vornamen zwar durchaus in Russland, hier wird damit aber das Exemplarische unterstrichen – Platon Karatajew ist in seinem Leben und Sterben die Verkörperung des natürlichen Lebens: ein Bauer, dem die Soldatenhülle nur äußerlich ist, und die er ablegt, sowie er nicht mehr im Krieg ist. Einer, der die Sprache des Volks spricht, die Tolstoi hier zu stilisieren versucht, indem er sie mit Volksweisheiten spickt (was ihm schon von seinen Zeitgenossen als gekünstelt angekreidet wurde). Der aktive Zug Karatajews ist seine Liebe zu allem Lebendigen, eine Liebe, die universal ist und sich nicht an Einzelnes bindet. Er lebt sein Leben, wie es sich ergibt: so wie er sich nicht gegen das Soldatendasein gewehrt hat, wie er seine Gefangenschaft angenommen hat, so fügt er sich ins Unabänderliche, als er erschossen wird.
Pierre verkörpert für Tolstoi das Suchen nach der Wahrheit des Lebens, weil er sich nicht entschließen kann, welchen Weg er gehen soll, und so experimentiert er mit dem Leben, um immer wieder zu scheitern: Erst sucht er die Wahrheit bei den Freimaurern, dann als gütiger reicher Grundbesitzer, der seinen Bauern Wohltaten erweisen will, als Beobachter des Krieges auf dem Schlachtfeld von Borodino, bis er schließlich in Gefangenschaft durch das Erlebnis des Todes geläutert, frei wird: „’Im Gefängnis halten sie mich. Wen? mich? Mich? Mich – meine unsterbliche Seele! Hahaha! … Hahaha! …’ lachte er, dass ihm die Tränen in die Augen traten.“ Und nach all seiner Seelenarbeit, wie es Tolstoi immer wieder bezeichnet, erkennt er in einem symbolischen Traum das Wesen des Lebens. Er träumt, wie ihm sein Geografielehrer einen Globus zeigt. „Dieser Globus war eine lebende, wabernde Kugel, ohne feste Umrisse. Die gesamte Oberfläche der Kugel bestand aus Tropfen, die untereinander fest zusammengepresst waren, und diese Tropfen bewegten sich alle, verschoben sich und verschmolzen bald aus mehreren zu einem, teilten sich bald aus einem auf in viele. Jeder Tropfen suchte zu zerfließen, einen möglichst großen Raum einzunehmen, aber andere Tropfen mit demselben Bestreben pressten ihn zusammen, manchmal vernichteten sie ihn dabei, manchmal verschmolzen sie mit ihm. – ‚Da hast du das Leben’, sagte der alte Lehrer.“
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Generell lässt sich feststellen, dass der Blick der Übersetzer früher mehr auf die inhaltliche Seite von Satz und Wort gerichtet war als auf die sprachliche Gestaltung des Textes, um nicht zu sagen: seine sprachliche Organisation. Man ließ sich eher von (damaligen) deutschen Stilkonventionen leiten, bemühte sich zu glätten, die vielen Wortwiederholungen und Satzparallelismen zu variieren, die manchmal grobe Wortwahl Tolstois abzumildern, die Satzfetzen, die niedere Umgangssprache, die grammatischen Brüche für das Verständnis des deutschen Lesers zu korrigieren und zu vervollständigen.
Um es auf eine – vereinfachende – Formel zu bringen: Die Übersetzung wurde auf den Leser ausgerichtet.
Nun also nach langer Zeit eine neue Übersetzung, ein weiterer Versuch der Annäherung in einer Zeit, in der sich das (deutsche) Stilgefühl entwickelt und verändert hat, Regelverletzungen, sprachliche Manierismen eher akzeptiert werden. Tolstoi wollte auf keinen Fall so schreiben „wie alle“, und „alle, das ist Turgenjew, das ist flüssige, korrekte Rede, Tolstoi aber brauchte das Aufgerauhte, brauchte die Schattierungen, brauchte sogar das Vulgäre, Grobe, brauchte improvisierte, nicht literarisch geschleckte Satzgebilde“, wie Boris Eichenbaum in seiner großen Tolstoi-Monographie schreibt. Entsprechend verändert ist nun auch die Blickrichtung der neuen Übersetzung. Denn der Stil, eher: die Sprachen Tolstois sind keine Zufallsprodukte, wie sich schon an dem über den gesamten Text gespannten feinen Netz von Entsprechungen erkennen ließe, sie folgen vielmehr sorgfältigem Kalkül – wie es Tolstois Manuskripte deutlich zeigen. Gorki, dessen Erinnerungen an Tolstoi von seinem großen Verständnis für den Autor zeugen, hat das Bewusste, das Raffinierte dieser Sprache bei einem Gespräch so charakterisiert: „Sie glauben, es wäre ihm leichtgefallen, dieses Knorrige? Er konnte sehr gut schreiben. Er hat es bis zu neunmal durchgestrichen – und beim zehnten Mal endlich war es dann knorrig.“
Um nun an die oben gebrauchte Formel anzuknüpfen – auch hier wieder sehr vereinfacht: Die Übersetzung ist stärker auf den Autor und seine sprachliche Eigenart ausgerichtet. Was der Autor seinen Lesern zumutet, wird auch dem Leser der Übersetzung zugemutet.
Barbara Conrad hat Tolstois Krieg und Frieden bei Hanser neu übersetzt