Autorenschreibtisch: Michael Ondaatje

Autorenschreibtisch: Michael Ondaatje

Verlorene Karrieren

Michael Ondaatje hat uns dieses Foto seines Schreibtischs mit den schlichten Worten “August Desk” geschickt. Und dann kam dieser schöne Text über verlorene Karrieren hinterher, der vermutlich an eben diesem Schreibtisch entstanden ist.

“Zwei Möglichkeiten boten sich mir als Halbwüchsigem: was ich nach Meinung anderer werden würde oder werden sollte und was ich selbst werden wollte. Einmal im Jahr kamen Berufsberater in meine Schule in England, unterhielten sich mit jedem Schulabgänger eine halbe Stunde lang und eröffneten ihm eine Woche später, wofür er geeignet war. Mir sagte man, ich sollte Zollbeamter werden. Es gab viele Berufsvorschläge, als ich meinen Schulabschluss machte – manche Jungen waren berufen, Minister zu werden, Unternehmer, Schriftsteller, Geschäftsleute, Zeitschriftenredakteure, Stückeschreiber, Architekten, Anwälte –, und ich war der Einzige, dem diese Karriere nahegelegt wurde. Das war meine Nische. Wenn ich heute durch den Zoll gehe und vor der roten Linie stehe, ergreift mich tiefes Schuldgefühl. Es ist der Beruf, den ich verschmäht habe. Auch wenn Künstler wie Herman Melville und Henri Rousseau diesen noblen Beruf ergriffen haben – ich habe mich ihm entzogen.

Die andere Alternative – was ich selbst werden wollte – änderte sich beständig, aus Mangel an Begabung und an Fähigkeiten: Ich wollte ein Pianist wie Fats Waller werden und/oder ein Illustrator von Abenteuerbüchern (mit vielen Schwarzweißbildern und ein paar Farbtafeln, wie im Werk von N.C. Wyeth). Stärker jedoch war immer der Wunsch, mich zu verwandeln und eine „Karriere“ als Tier, zum Beispiel als Vogel, anzustreben.An dieser kindlichen Phantasie hielt ich viel zu lange fest, und noch als meine Kinder schon groß waren, wünschte ich mir beim Aufwachen, ich wäre eine Krähe oder ein Jagdhund.

(Das schönste Kompliment, das ich je bekam, war die Feststellung von Gabriel Yareds Frau, ich würde wie ein Wolf tanzen.)

Das Tier, das ich als Junge am liebsten gewesen wäre, war ein Dachs. Der Dachs. Bestimmt wünschte ich mir das nach der Lektüre von „Der Wind in den Weiden“, und selbst jetzt noch stelle ich mir vor, das gesellschaftliche Umfeld eines „literarischen Lebens“ sollte nach dem Vorbild einer Gemeinschaft modelliert sein, wie sie in diesem Buch existiert, vielleicht mit ein paar mehr weiblichen Wesen.

Aber Jazzpianist und Buchillustrator lagen näher. Trotzdem weiß ich sogar heute noch, wenn ich einen Hasen in einem Feld sehe, dass es das andere, ungelebte Leben gibt.”
Aus dem Englischen von Anna Leube.

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