5 Fragen an ... Sylvie Schenk

5 Fragen an ... Sylvie Schenk

Liebe Sylvie Schenk, im Zentrum Ihres neuen Romans steht Ihre Mutter. Wer war sie?
Meine Mutter war die Frau, die ich im Roman beschreibe: schweigsam, introvertiert, einsam, freudlos, die Frau, die nie über ihre Herkunft geredet hat, ein traumatisierter Mensch, ein misstrauisches Waisenkind. Sie versuchte mühsam, ihre Rolle als Mutter, Hausfrau, Ehefrau eines Zahnarztes ordentlich zu spielen, den Anforderungen gerecht zu werden. Es fiel ihr schwer, sie beklagte sich nie, sie führte nur Selbstgespräche. Meine Mutter war eine Vertreterin ihrer Zeit und Gesellschaft. Ihr Leben ist stark beeinflusst vom Ersten Weltkrieg und seinen Folgen. Und jetzt? Jetzt ist sie eine zärtliche und schmerzhafte Erinnerung. Sie ist der unglückliche Teil von mir, von meinen Geschwistern, der Teil, der nach Liebe und Anerkennung bettelt.

Warum hatten Sie das Gefühl, dass jetzt die richtige Zeit ist, um über Ihre Mutter zu schreiben?
Ich bin jetzt mehr als zehn Jahre älter, als meine Mutter war, als sie starb. Ich darf nichts mehr aufschieben, was für mich wirklich wichtig ist. Ich habe auch in vorangegangenen Büchern von meinen Eltern erzählt, doch nicht genug, nicht tiefsinnig und nicht selbstlos genug. Dieses Buch soll eine Hommage an meine Mutter sein, ein bescheidenes Denkmal.

Wie sah die Recherchearbeit aus?
Es gibt Webseiten, mit deren Hilfe man die Daten seiner Ahnen recherchieren kann. Aber die Hauptrecherchen hat meine Schwester in den Lyoner Archiven geleistet. Wir konnten dort Informationen über unsere Großmutter finden, wo sie gewohnt hat, wann, wo und wie sie gestorben ist. Auch über meine Mutter konnten wir Wichtiges erfahren, über ihre Geburt, ihre Jahre bei Pflegeeltern, ihren Gesundheitszustand. Ich habe dann auch weiter zu den Verhältnissen der Zeit recherchiert, viel erfahren über die Armut alleinstehender Arbeiterinnen, über die Folgen des ersten Weltkriegs in Lyon, über den Aufenthalt verletzter deutscher Soldaten in Lyon. Das alles erlaubte mir, die Geschichte meiner Mutter nachzuvollziehen.

Was haben Sie beim Schreiben dieses Romans über sich selbst gelernt?
Dass auch das Schreiben eines Buches keine Wunden heilt. Das Schreiben eines Buches ist nur eine Art, damit zu leben, denn meine Mutter hat sich selbst in mich eingeschrieben. Es ist auch eine Art, eine Verbindung zwischen Generationen und über zwei Jahrhunderte hinweg herzustellen, eine tiefe Verbindung, die meinen eigenen Blick erweitert und manchmal auch für ein Schwindelgefühl gesorgt hat.

Als Schriftstellerin haben Sie sowohl fiktionale als auch autofiktionale Werke verfasst. Wo liegen für Sie selbst die Unterschiede beim Schreiben?
Für mich gibt es keine nennenswerten Unterschiede. Kann man über die Liebe oder über physische Schmerzen schreiben, ohne jemals selbst geliebt oder gelitten zu haben? Die Fiktion braucht das Fundament der Erfahrung und der eigenen Sensibilität. In meinen früheren Romanen war der Anteil der Fiktion in der Tat viel größer, dennoch habe ich mich immer mit meinen Protagonisten identifiziert, sie waren alle Ableger von mir. Für eines meiner Bücher, Die Tochter des Buchhändlers, habe ich mal einen jungen Schriftsteller erfunden, der im Zug Leute anspricht, sie ganz kurz interviewt und anschließend eine Biografie für sie erfindet, die Biografie, die sie verdienen. In meinen autofiktionalen Werken tue ich eben das. Ich erzähle von echten Fakten, echten Personen und füge Erfundenes hinzu, webe den fehlenden Teil der Biografie neu. Dieser hinzugewebte Teil ist ebenfalls echt, weil er den Lebensumständen, dem Charakter, den Lebensthemen meiner Protagonisten entspricht. Das ist meine Art, ihnen gerecht zu werden. Ich restauriere die Biografie.

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