5 Fragen an ... Rolf Lappert

5 Fragen an ... Rolf Lappert

Lieber Rolf, Leben ist ein unregelmäßiges Verb ist ein wahrhaft epischer Roman mit zahlreichen faszinierenden Handlungsorten, Nebenfiguren, Zeitebenen. Er wird wahrscheinlich fast 1.000 Seiten umfassen. Was war die erste Idee zu diesem Buch, wo nahm es seinen Anfang?
Eine vage Idee für Leben ist ein unregelmäßiges Verb hatte ich vor mittlerweile sieben Jahren – damals sah die Geschichte, wie ich sie im Kopf hin und her wälzte, noch ganz anders aus. Ich bin seit jeher fasziniert von Menschen, die sich von der sogenannten normalen Welt abgewandt haben, um nach ihren eigenen Regeln zu leben. Dokumentationen über die Amish People in Amerika oder Argentinien, über die Bewohner von utopischen Künstlerkolonien bis hin zu den Verblendeten und Verrückten, die irgendwo in der Wildnis als Sekte hausen, finde ich ebenso spannend wie beängstigend, denn in keiner dieser Gemeinschaften sind die Menschen wirklich frei und können über ihr Schicksal entscheiden, ohne vom eigenen Umfeld beeinflusst und bevormundet zu werden.

Und was hast Du aus dieser Idee gemacht?
Weil ich meine Geschichte weder in Amerika noch in Argentinien oder in irgendeinem Urwald ansiedeln und weder religiöse noch vom angeblich kurz bevorstehenden Weltuntergang schwadronierende Spinner darin haben wollte, entschied ich mich für eine Gruppe von vier Frauen und fünf Männern, die einen abgelegenen Bauernhof in Norddeutschland ökologisch bewirtschaften, normale Aussteiger eben. Fast normal, denn sie verstecken ihre vier Kinder – vier Paare haben je ein Kind - vor den Behörden und lassen sie folglich auch nicht zur Schule gehen. Als die Kinder etwa zehn Jahre alt sind, wird die Kommune – wahrscheinlich aufgrund eines anonymen Hinweises – von den Behörden entdeckt und aufgelöst. Das war der Ausgangspunkt für die Geschichte: Was passiert mit den vier Kindern, die bisher nichts kannten als ihre eigene, kleine Welt?

Im Zentrum des Romans stehen die Lebenswege dieser vier „Kommunenkinder“ aus dem Kampstedter Bruch, die 1980 von der Polizei auf dem Aussteiger-Bauernhof ihrer Eltern entdeckt und dann zu Angehörigen bzw. Pflegefamilien kommen. Was fasziniert Dich an dieser Kindheit der vier in einer Kommune in der Natur, warum ist dieser Ursprung der vier so wichtig für den Roman?
Weil ich, wie schon in meinem Roman Nach Hause schwimmen, meinen Protagonisten gerne das Leben schwer mache. Im neuen Roman werfe ich die vier Kinder ins kalte Wasser und lasse die Leser und Leserinnen zuschauen, wie sie strampeln, um nicht unterzugehen. Alle vier landen in einer Umgebung, die sie nicht kennen und die sie zutiefst verwirrt. Ihre Verfrachtung vom vertrauten Land in die fremde Stadt ist ein brutaler, traumatisierender Akt, eine Entwurzelung, mit der die vier zwar auf unterschiedliche Arten umgehen, die ihnen aber alles an Anpassungs- und Leidensfähigkeit abverlangt, vor allem, als sie zur Schule müssen und sich mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert sehen. Ebenso schön wie schmerzlich sind für mich die Szenen, in denen die Kinder sich an die Zeit auf dem Hof erinnern, an die Geborgenheit untereinander, an die Tiere und die Natur.

Was leistet ein derart umfangreicher Roman, das ein kürzeres Buch nicht leisten könnte?
Die simpelste Antwort wäre: Quantität. Ein dickes Buch bietet mehr Raum zum Erzählen, für die Figurenzeichnung, für Nebenstränge. Was ich an einem umfangreichen Roman schätze, ist die Atmosphäre, in die ich hineingezogen werde, das Universum, das sich eröffnet und in dem ich mich tage- oder wochenlang bewege und ein Teil davon werde. Im Fall von Leben ist ein unregelmäßiges Verb ist es natürlich auch so, dass ich mit den Kindern vier Hauptfiguren habe, die alle ihren Platz beanspruchen – immerhin erzähle ich ihre Leben vom zehnten Altersjahr bis zum fünfzigsten, wobei es Lücken gibt und Zeit gerafft und komprimiert wird. Im besten Fall tauchen meine Leser und Leserinnen in den Roman ein und sind auf der letzten Seite ein wenig enttäuscht, dass das Buch zu Ende ist. Eine schöne Vorstellung!

Es ist unglaublich, wie viele Szenerien, Geschehnisse und Stimmungen sich beim Lesen übereinanderlegen. Gibt es eine Szene, an die Du besonders gern denkst, bei der Du Dich selbst überraschtest?
Tatsächlich war es beim Schreiben dieses Romans so, dass ich oft dem ersten Impuls gefolgt bin, die erste Idee für den Fortgang der Geschichte umgesetzt habe, ohne lange über mögliche alternative Richtungen nachzudenken und stattdessen den vier Kindern – und später den Jugendlichen und Erwachsenen – zu folgen und sie zu begleiten auf ihrem Lebensweg, der ein mäandernder, sich windender Fluss ist, wie das Leben in meinen Augen ein stetig sich vorwärts bewegender Fluss ist, in dem der kleine Mensch fortgetragen wird und einen nur sehr geringen Einfluss darauf hat, wohin er getrieben wird. Deswegen gab es während des Schreibens immer wieder Wendungen, die mich selbst überrascht haben, weil ich sie nicht bis ins Detail durchgeplant hatte und deshalb an Orten und in Situationen gelandet bin, die mich manchmal zu unvorhersehbaren Entscheidungen gezwungen haben. Am meisten Überraschungen gab es für mich im letzten, dritten Teil des Romans, weil da – zumindest auf den ersten Blick – ein neues Buch beginnt und die Leser und Leserinnen mit neuen Erzählstimmen konfrontiert werden, die die Geschichte aus anderer Perspektive weiterführen.

Newsletter
Newsletter