5 Fragen an ... Philipp Blom

5 Fragen an ... Philipp Blom

Lieber Philipp Blom, was kann ein Historiker zur tagespolitischen Diskussion beitragen?
Perspektive. Tagespolitische Diskussionen haben einen sehr kurzen Zeithorizont und emotionalisieren die Debatte. Da ist es besonders wichtig, Strukturen und Kontinuitäten freizulegen und das Verständnis für längere Prozesse zu stärken.

Woher nehmen Sie den Mut zu weitreichenden Prognosen?
Ich stelle keine Prognosen. Ich versuche nur zu verstehen, was für historische Prozesse momentan stattfinden, und ich denke sie einige Schritte weiter. Das heißt nicht, dass die Dinge so eintreten werden, sondern dass ich Tendenzen identifiziere (Digitalisierung, Klimawandel), deren Dynamik unsere Gesellschaften verändern wird. Wie diese Veränderung aussehen wird, hängt wesentlich von Entscheidungen ab, die in den kommenden Jahren getroffen werden – oder eben nicht.

Können Gesellschaften lernen?
Ich meine, Gesellschaften haben eher die Tendenz, auf Traumata zu reagieren. Wie auch in einer kleineren Gruppe, einer Familie etwa, kann ein schweres Trauma das Leben von zwei oder drei Generationen überschatten und mitbestimmen. Ich bin auch überzeugt, dass man Muster und Strukturen erkennen kann, wenn man Gesellschaften der Vergangenheit studiert, und dass diese Muster noch heute weiterwirken. Die Frage ist, ob Gesellschaften, in denen so viele Interessen auch über Geschichtsbilder ausgehandelt werden, in denen große wirtschaftliche Interessen miteinander im Konflikt liegen und deren Geschichtsbild durch Hollywoodmythen geprägt ist, an so einem strukturellen Verständnis von Geschichte interessiert sind. Vielleicht können einige Menschen tatsächlich aus der Geschichte lernen und diese Analyse öffentlich zur Diskussion stellen und vielleicht kann aus ihren Argumenten sogar Politik werden. Geschichte ist nicht das objektive Analysieren der Vergangenheit, sondern ein ständiges Uminterpretieren von Objekten, Fakten, Vermutungen und Zusammenhängen. Jede Generation erzählt sich ihre Geschichte neu, und dabei ist die Verarbeitung historischer Traumata natürlich wichtig.

In den Niederlanden und in Frankreich sind die Populisten erst einmal gescheitert. Entwarnung?
Ein Kleinkind spielt im Hochhaus am offenen Fenster und fällt nicht runter. Entwarnung? Und nein, ich meine nicht, dass Wähler Kleinkinder sind, aber das Anwachsen des nationalistischen Populismus wird andauern, solange die strukturellen Probleme in unseren Gesellschaften nicht behoben werden. Eigentlich geht es um Hoffnung, um Identität, um Zukunft in Gesellschaften, die immer ungerechter, ungleicher und ausbeuterischer werden und in denen viele Menschen Angst vor dem Absturz haben, gerade weil es ihnen noch gut geht. Das hat wirtschaftliche und ideologische Gründe, aber darum geht es ja im Buch.

Sie zeichnen ein pessimistisches Bild für die Zukunft. Hat das Konsequenzen für Ihren persönlichen Alltag?
Mal sehen – hat Pessimismus Konsequenzen für den Alltag? Zuerst einmal hat Problembewusstsein hoffentlich solche Konsequenzen. Ich habe kein Auto (allerdings auch keinen langen Arbeitsweg vom Bett zum Schreibtisch und keine Kinder, die herumgefahren werden müssen), esse weniger Fleisch als früher und so weiter. Gleichzeitig denke ich zwar über die Zukunft nach, aber ich lebe jetzt, und das Leben ist zu interessant, um den Pessimismus überhandnehmen zu lassen. Ja, ich bin ziemlich überzeugt davon, dass wir im Moment kollektiv im Begriff sind, vor die Wand zu fahren, aber bis zur letzten Sekunde vor dem Aufprall kann man immer noch denken: so weit, so gut.

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