5 Fragen an ... Max Czollek

5 Fragen an ... Max Czollek

Lieber Max Czollek, mit deinen letzten beiden Büchern hast du dich als wichtige Stimme gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung jeder Art aber vor allem auch für die Selbstbestimmung von Menschen in dieser Gesellschaft etabliert. Dein neues Buch heißt _Versöhnungstheater_. Was hat es damit auf sich?
Das positive Selbstbild der deutschen Gesellschaft basiert auch auf einer vermeintlich guten und umfassenden Erinnerungskultur. Diese Erinnerungskultur hat in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Phasen durchlaufen. Die Kernthese, die das Buch aufstellt, lautet, dass wir in eine neue, dritte Phase der Erinnerungskultur eingetreten sind – das Versöhnungstheater. Die erste Phase (westdeutscher) Erinnerungsarbeit drehte sich um die sogenannte Vergangenheitsbewältigung, die von außenpolitischen Gesten der „Wiedergutmachung“ und innenpolitischen Amnestiegesetzen geprägt war. Der Kniefall Willy Brandts 1970 markiert den Beginn der zweiten Phase der Erinnerungskultur, die in der Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 ihren Höhepunkt fand. Beide Ereignisse verweisen schon auf ein zentrales Charakteristikum dieser Phase: die Intensivierung der symbolischen Ebene, die sich etwa in Reden, Gesten, Erinnerungsbauwerken und Gedenktagen ausdrückt. Die dritte Phase der Erinnerungskultur beginnt mit der Vereinigung beider deutscher Staaten. Darin wird die Infrastruktur der Erinnerung, die die Jahrzehnte zuvor etabliert worden ist zum Ausgangspunkt, Deutschland als gute Nation wieder neu zu denken. Die Erinnerungskultur wird also im Versöhnungstheater zu einem Motor eines positiven nationalen Selbstbildes.

Wo siehst du dieses Versöhnungstheater aktuell am Werk, im Großen und Kleinen?
Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, mit denen ich mich in meinem Buch befasse, etwa die Rede von Bundespräsident Steinmeier im Januar 2020 in Yad Vashem, dem zentralen Erinnerungsort an die Shoah in Jerusalem. Steinmeier war für die 75-Jahr-Feier der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum World Holocaust Forum eingeladen worden und bedankte sich bei den Gastgebenden Israelis für das „Wunder der Versöhnung“. Hier zeigt sich ein zentraler Aspekt der dritten Phase der Erinnerungskultur: die Gleichsetzung von Erinnerung und Versöhnung, so als sei die symbolische Handlung bereits Ausdruck der realen Handlung, die sie vermeintlich anzeigt, in Wirklichkeit aber häufig ersetzt. Diesen Aspekt der symbolischen Ebene der Erinnerung als Ersatzhandlung schaue ich mir insbesondere in Bezug auf die ausbleibende Strafverfolgung von Nazitäter*innen an, die in der Bundesrepublik und auch in der DDR ab den 1950er Jahren weitestgehend unbehelligt leben und nicht selten an ihre Karrieren anknüpfen konnten. Dieser Fakt unterstreicht noch einmal, dass die Intensivierung der symbolischen Ebene ab der zweiten Phase der Erinnerungskultur nicht mit einer Intensivierung realer Handlungen verwechselt werden sollte. Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung nenne ich das. Ein dritter Aspekt betrifft die Erinnerungsarchitektur, also die Art und Weise, wie der deutsche Staat Architektur und Geschichte zusammendenkt. Und da schaue ich mir insbesondere das zentrale Erinnerungspolitische Projekt Berliner Stadtschloss an. Meine These ist, dass die alte Residenz der Preußenkönige ohne das Denkmal für die ermordeten Juden Europas niemals so frei von jedem Selbstzweifel hätte gebaut werden können. Erst musste die Gewaltgeschichte in einem Denkmal gebannt werden, bevor man die deutsche Geschichte als gute Geschichte neu erfinden konnte. Auch das ist Ausdruck des Versöhnungstheaters – eine Versöhnung der deutsch-deutschen Gesellschaft mit sich selbst und ihrer Geschichte.

Das Versöhnungstheater, wie du es beschreibst, beschränkt sich letztlich aber nicht auf die großen politischen Gesten. Wo finden sich seine Folgen auch in unserem Alltag?
Ich würde sagen, dass die Versöhnung so etwas wie der Pathos der Erinnerungskultur ist. Im Familienkreis, beim Publikumsgespräch, bei der Gedenkveranstaltung ist man tief gerührt von dieser Geste der Versöhnung, die umso bedeutsamer wird, je schlimmer das Verbrechen scheint, auf das man rekurriert. Dabei entsteht dieser eigenartige Exhibitionismus, mit dem die Shoah manchmal dargestellt wird, so als würde man sich an den Bildern der Gewalt berauschen. Je größer der Kontrast, desto stärker die Wirkung. Merkwürdige ist daran auch, dass diese Versöhnung ein Stück ist, was eine nicht-jüdische deutsche Öffentlichkeit weitgehend ohne lebendige Nachkommen der Opfer aufführt. Oder anders gesagt: man hat sich die versöhnlichen Stimmen der Opfer und ihrer Nachkommen einfach dazuerfunden, selbst wenn die Juden und Jüdinnen das gar nicht hergaben. Nach Jahrzehnten dieser Inszenierung ist man nun so überzeugt davon, dass das wirklich stattgefunden hat, dass das in öffentlichen und privaten Begegnungen zu eigenartigen Dissonanzen führt. So als wäre man überrascht, dass die lebendigen Nachkommen der Opfer gar nicht so versöhnlich sind, wie man sie sich ausgemalt hat. Und das ist fast schon ironisch, weil das Versöhnungstheater am Ende daran scheitert, dass es Theater ist und keine Realität. Oder besser: scheitern müsste, denn die Meisten Menschen lassen sich davon nicht weiter beirren.

Was schlägst du als Alternative zum performativen Erinnern vor – konzeptionell und praktisch?
Eine Kritik am Versöhnungstheater bedeutet erst einmal, dass man danach fragt, wer hier eigentlich im Zuschauerraum sitzt und das Stück genießt, was da zur Aufführung kommt. Wer wünscht sich Versöhnung? Und welche Perspektiven und Gefühlszustände bleiben dabei ausgeschlossen? Es ist fast ein wenig kurios, dass eine Erinnerungskultur, die sich selbst für die eigene Aufarbeitung preist, die emotionale Dimension der Untröstlichkeit und der Unversöhnlichkeit fast schon paradigmatisch ausschließt – denn dadurch werden die Stimmen genau jener Menschen ausgeschlossen, für die diese Erinnerungskultur vermeintlich auch da ist: die der Opfer und ihrer Nachkommen.
Das ist auch ein konzeptionelles Problem, denn solange man Erinnerung als Instrument versteht, um eine positive Identifikation mit der Nation zu befördern, solange ist man auch darauf angewiesen, die deutsche Geschichte als Ort der positiven Identifikation zu erzählen. Und wenn sie das nicht hergibt, dann eben wie beim Berliner Stadtschloss einfach zu erfinden. Darum geht es auch um eine Kritik an dieser Idee, die in vergangener Zeit prominent von der Gedächtnisforscherin Aleida Assmann formuliert worden ist: dass die Erinnerungskultur einer Entkrampfung des Verhältnisses zur Nation dienen sollte. Meine Gegenthese dazu lautet: Erinnerungskultur ist dazu da, die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.
Das ist nicht zufällig die Haltung die im letzten Drittel des Buches in den Blick gerät. Da komme ich nämlich auf Beispiele zu sprechen, die aufseiten der Zivilgesellschaft stattfinden und seit Jahrzehnten stattgefunden haben – nicht selten unterhalb des Radars öffentlicher Aufmerksamkeit und staatlicher Erinnerung. Entfernt man sich dabei auch von den Rollen, die Minderheiten vor dem Hintergrund der deutschen Erinnerungskultur zugeschrieben werden, sieht man: Es gibt eine antifaschistische Tradition unter Gastarbeiter*innen, es gibt auch eine Geschichte des Verbündet-Seins zwischen Juden und Jüdinnen und anderen diskriminierten Gruppen wie Sinti*ze und Rom*nja, Muslim*innen, Türk*innen, Queers und so weiter in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. Und das ist auch praktische Erinnerungskultur im dem Sinne, wie ich sie gerade beschrieben habe.

In Desintegriert euch hast du dich für eine lebendige Pluralität ausgesprochen, in Gegenwartsbewältigung stand die Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ im Zentrum. Wie schließt dein neues Buch an diese Diskussionen an, was fügt es hinzu
Mit meinen Essays verfolge ich ein Projekt, was man als Ideologiekritik einer deutschen Gegenwart bezeichnen könnte. Diese Gegenwart ist meiner Wahrnehmung nach aufgespannt zwischen Fragen der Zugehörigkeit, des Umgangs mit der Gewaltgeschichte und des eigenen Selbstbildes. Dazu passt die Frage nach der Erinnerungskultur, denn in einer Gesellschaft, die ihre Selbstbild so stark aus der Erinnerung schöpft wie die Deutsche, hat Erinnerung Teil an der Frage nach Zugehörigkeit. Daher ist es kein Zufall, dass sich Argumentationsmuster, die einem aus Integrationsdiskursen bekannt vorkommen werden, auch in Bezug auf Erinnerungskultur erleben: Die teilen nicht unsere Erinnerungskultur, die sind gefährlich für unsere Gesellschaft, die gehören nicht dazu. Dagegen steht eine Realität des gemeinsamen Kampfes gegen die Gewalt, die die postnationalsozialistische Gegenwart auch weiterhin produziert, ganz gleich, wie oft sie ihre eigene Wiedergutwerdung beschwört. Bedrohte Minderheiten wissen, wie es um die Aufarbeitung wirklich bestellt ist und darum gilt hier was schon mit dem ersten Buch gefordert wurde: Eine Desintegration aus den Selbstberuhigungs- und Selbstbeschwörungsgesten einer deutsch-deutschen Gesellschaft, die zwar wieder gut sein will, aber keine Verantwortung übernehmen möchte, indem sie die Strukturen ändert, die diese Gewalt möglich gemacht haben und bis heute ermöglicht.

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