5 Fragen an ... Marko Dinić

5 Fragen an ... Marko Dinić

Herr Dinic, Sie sind in Wien geboren und in Belgrad aufgewachsen, man würde Ihnen also von Ferne attestieren, dass Sie beide Welten, in denen sich Ihr Debütroman Die guten Tage bewegt, sehr gut kennen. Mussten Sie überhaupt recherchieren?
Die Tatsache, dass ich sowohl im sogenannten Westen als auch im Osten Europas aufgewachsen bin, erlaubt es mir, aus beiden Lebenswelten zu schöpfen, um dann beim Schreiben Wände, die unweigerlich zwischen diesen beiden Realitäten stehen, einzureißen und Brücken zu schlagen. Das klingt zwar abgedroschen, ist jedoch Teil des Schaffensprozesses vieler Migrant*innen. Die Welt der sogenannten Gastarbeiter*innen etwa kann nur in der Wechselwirkung zwischen der „alten“ und der „neuen“ Heimat betrachtet werden. Dafür muss man meines Erachtens beide Welten gut kennen. Tatsächlich habe ich weniger für dieses Buch recherchiert, als dass ich mich von einem Gefühl bzw. einer Dringlichkeit habe leiten lassen. Diese Dringlichkeit ging einher mit dem zehnten Jahrestag des Nato-Bombardements Serbiens 2009, der mich damals, gefühlt, wie ein Güterzug überrollt hat und eine große Leerstelle in mir freilegte. Diese Leerstelle war gesäumt mit aller Art Fragen, die die im Serbien der neunziger Jahre aufgewachsene Generation bis heute beschäftigen: Wie konnte es sein, dass unsere Eltern, die im durchaus freien, gebildeten und geregelten Umfeld des ehemaligen Tito-Jugoslawien aufgewachsen sind, einen derart widerwärtigen, menschenfeindlichen Nationalismus zugelassen haben – immer noch zulassen? Welche Rolle spielen wir, die Kinder dieser Eltern, damals und heute, und was können wir tun, um das Geschehene aufzuarbeiten und unseren Eltern wieder näherzukommen? Die Schuldfrage drängt sich einem fast von selbst auf. Die Aufarbeitung dieser Fragen treibt seit diesem 24. März 2009 mein Schreiben an. Dementsprechend verstehe ich mein Schreiben durchaus als – frei nach Szilard Borbely – eingeschränkte Fiktion, in der das Autobiographische in entfremdeter Form seine literarische Geltung bekommt.

Der Roman besticht unter anderem durch eine sehr intensive, kraftvolle, bildhafte, einprägsame Sprache. Schöpfen Sie aus dem Leben, aus dem Realen? Gibt es literarische, sprachliche Vorbilder?
Ich arbeite sehr langsam und konzentriert an meinen Texten, da Deutsch immer noch eine Fremdsprache für mich ist, die mich sehr fordert. Viele Leute sagen: „Du kannst ja besser Deutsch als die Einheimischen!“ Aus persönlicher Erfahrung würde ich dem vehement widersprechen. Weil ich die deutsche Sprache viel später gelernt habe, besteht eine Diskrepanz zur Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit meiner Muttersprache: Ich lese viel langsamer auf Deutsch, lese Sätze vier-, fünf-, zehnmal. Das liegt aber auch daran, dass Deutsch mein Arbeitswerkzeug ist. Den deutschen Satzbau mit seinen Möglichkeiten und Heimtücken zu kennen, ist mir ein großes Anliegen und auch der größte Genuss. Aber auch der Verlust dieses Könnens ist sehr präsent bei mir, die Angst, eines Tages das Maul nicht auf – und keinen geraden deutschen Satz hinkriegen zu können – die modrigen Pilze lassen grüßen.
Die Lektüre, zumal die Lektüre von Lyrik, ist ein untrennbarer Teil meines Schreibprozesses. Für meinen Roman sind sowohl verfahrenstechnisch als auch inhaltlich die folgenden Werke mehr als nur Vorbilder: Louis Ferdinand Celine Die Reise ans Ende der Nacht, Joseph Roth Das Kartell, Joseph Conrad Herz der Finsternis, Albert Camus Der Fremde und die Gedichte von Ossip Mandelstam in der Übersetzung von Paul Celan.

Mit dem Vater, mit der Vätergeneration geht der Protagonist besonders hart ins Gericht. Opportunismus, Untätigkeit, Obrigkeitsgläubigkeit – die Liste der Vorwürfe ist lang. Führt Krieg zwangsläufig zu diesem Konflikt? Was macht Krieg, aus Ihrer Perspektive, mit Jugendlichen?
Ich glaube nicht, dass Krieg per se zu Opportunismus, Untätigkeit und Kadavergehorsam führt, sondern eher der viel früher auftretende Nationalismus, das Dogma und der damit einhergehende Chauvinismus. Das Feld muss bestellt werden, bevor es sprießt. Danilo Kiš bezeichnete den Nationalismus als Linie des geringeren Widerstands, das bedeutet, dass andere, weitaus gefährlichere Leute als man selber, das Denken für einen übernehmen, mit einfachen Antworten auf sehr komplexe gesellschaftliche Fragen um sich schmeißen, die Massen mit ihrem lauten Tönen betören. Das haben wir alles schon gesehen: Erster, Zweiter Weltkrieg, Jugoslawienkrieg – das Einschwören der Gemeinschaft auf imaginäre Probleme und in letzter Instanz auf imaginäre Feinde ist die alte Leier, die zu spielen den Mächtigen anscheinend immer noch nicht fad geworden ist. Die Jugendlichen bzw. diejenigen, die innerhalb solcher Konflikte aufwachsen, sind entweder genauso diesen toxischen Narrativen ausgesetzt, übernehmen Handlungsmuster ihrer Eltern, oder sie fangen an, Verantwortung zu übernehmen für etwas, wofür sie nichts konnten und können. Deshalb ist auch Bildung ein Schlüssel, durch den viele gesellschaftliche Probleme beseitigt werden können. Integrieren in eine pazifistische und antifaschistische Gesellschaft – vorausgesetzt man hat sich auf solch eine Gesellschaft geeinigt, was nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, wo sich heute aber eine weitläufige Amnesie breitgemacht hat – müssen sich ja nicht nur Migrant*innen, sondern alle Kinder. Nationalismus und Chauvinismus gehen auch mit der Geschichtsverdrossenheit einer Gesellschaft einher, die jahrtausendealte, bewährte Kulturpraktiken wie das Lesen auf das widerliche Wort „Kompetenz“ heruntergebrochen hat. Was wir jetzt in den Medien verfolgen können, von Trump über AfD bis hin zu türkis-blau ist die Quittung für unsere Bildungspolitik, die Ausdruck eines ekelhaften, immer noch sehr präsenten Dreiklassendenkens ist.

Sie beschreiben sehr plastisch die Gastarbeitergeneration und ihre Kinder, die in der Diaspora leben, aber eigentlich in der neuen Heimat nie so richtig angekommen sind. Woran liegt das?
Wenn jemand von Kindesbeinen in der Schule als Ausländer bezeichnet wird bzw. in ein Schulsystem kommt, in dem von Anfang an klar ist, wer in die Gymnasien und wer in die Mittel- oder Hauptschulen gehen wird – und einschlägige Statistiken belegen, dass Kinder mit Migrationshintergrund sogenannte Bildungsverlierer sind –, dann beginnt für viele Kinder schon sehr früh ein Ausgrenzungsprozess, den diese nur schwer bzw. gar nicht verarbeiten können. Kinder lernen ja erst in der Schule, Sachen zu abstrahieren, ihre Emotionen zu zügeln. Wenn
jemand aber von Anfang an stigmatisiert wird, egal ob durch den Nachnamen oder die Hautfarbe, dann muss der- oder diejenige entweder doppelt so viel arbeiten wie der vermeintlich heimische Rest, oder aber großer Unmut und Verweigerung treten ans Tageslicht. Die Schuld daran bleibt wieder an den Kindern und ihren Eltern hängen, an migrantischen Haushalten, deren Probleme angeblich darin liegen, zuhause nicht genügend Deutsch zu sprechen. Kindern und Jugendlichen wird auf dem Schulhof verboten, Türkisch oder Serbo-Kroatisch zu sprechen. Ich frage mich, ob dieses Verbot auch dann gilt, wenn die Kinder im Schulhof Französisch oder Englisch miteinander sprechen? Wohl eher kaum. So wird den Kindern ein großer und sehr wichtiger Teil ihrer Identität abgesprochen. Heimat entsteht dort, wo alle dieselben Ausgangschancen haben.

Im Frühjahr 2019 jährt sich das Bombardement von Belgrad zum zwanzigsten Mal. Was sind, nach Ihrem Dafürhalten, die größten offenen Wunden?
Der immer noch sehr präsente Nationalismus, der sich in den letzten Jahren in ein hohles Gefäß verwandelt hat und zum Selbstläufer geworden ist, um diejenigen bei Laune zu halten, die sich Wahlen überhaupt noch antun. Phrasen und Wortkonserven dominieren den öffentlichen Diskurs. Von Verflachung kann da nicht die Rede sein – ein neuer Tiefpunkt beschreibt die Situation wohl besser. Da die Linke in Serbien bis auf weiteres diskreditiert bleibt, gibt es keine diverse Politiklandschaft: Alle Spektren des Nationalismus sind im Parlament vertreten, liberale Kräfte bis auf weiteres unerwünscht. Und dass die hiesigen Medien und Politiker*innen der EU diese jetzige serbische Regierung nahezu unkritisch billigen, grenzt nicht nur an Verlogenheit, sondern ist brandgefährlich. Schließlich schulen sich die reaktionären Kräfte in ganz Europa genau an dieser Politik, die in Serbien oder in Russland oder in der Türkei salonfähig geworden ist. In einem solchen Klima ist Aufarbeitung zu einem Fremdwort verkommen. Und ich kann es den Leuten nicht einmal verübeln: Wer will sich schließlich mit komplexen geschichtlichen und gesellschaftskritischen Fragen befassen, wenn die halbe Bevölkerung in beinahe masochistischer Manier als Geisel eines seit fast dreißig Jahren bestehenden, chauvinistischen, nationalistischen und korrupten Systems gehalten wird. Die, die sich mit Fragen der Aufarbeitung beschäftigen wollen, sind meist diejenigen, die das Land verlassen, um die Vorzüge des freien Denkens und Handelns zu genießen. Fragt sich nur, wie lange dies noch in der EU möglich sein wird.

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