5 Fragen an ... J. Courtney Sullivan

5 Fragen an ... J. Courtney Sullivan

Liebe J. Courtney Sullivan, identifizieren Sie sich mit beiden Protagonistinnen Ihres Romans Fremde Freundin, mit Elisabeth, der Mutter, und der Babysitterin Sam?
Absolut. Für mich ist das Buch auch eine Art Gespräch mit meinem jüngeren Ich. Wenn man als Frau eine jüngere Freundin hat, ist es oft so, dass man der jungen Frau gerne helfen würde, die eigenen Fehler nicht zu machen. Aber das geht nicht. Es gibt Fehler, die muss man selber machen, um wirklich zu verstehen, was dabei herauskommt.

Fremde Freundin hat auch eine stark gesellschaftspolitische Dimension, wie kam es dazu?
Als ich anfing, über dieses Buch nachzudenken, wusste ich von Beginn an, dass Klassenzugehörigkeit eine wichtige Rolle darin spielen würde. Das ist auch ein Buch über die Gig Economy, über das schrumpfende Sicherheitsnetz, über die Schuldenlast, die Studierende erdrückt, und andere wirtschaftliche Auswirkungen, unter denen junge Menschen leiden. Elisabeth ist mit Geld aufgewachsen, sie hat das Geld ihrer Familie abgelehnt und fühlt sich deshalb so richtig überlegen. Ihrer Meinung nach hat sie es ganz aus eigener Kraft geschafft, aber das stimmt natürlich nicht. Und selbst Sam, die die Schulden ihres Studienkredits und viele andere Sorgen belasten, gehört mit der Ausbildung, die sie machen kann, zu den Privilegierten. Auch ihre Staatsbürgerschaft ist eine Art von Privileg.

Ist es unbequem über Klassengesellschaft und Privilegien zu schreiben?
Es ist notwendig, denn es bestimmt unser gegenwärtiges Leben. Wir alle denken darüber nach und sprechen darüber und überlegen uns, was wir besser machen könnten. Ich hätte tatsächlich gerade jetzt nichts Anderes schreiben können. George, der Schwiegervater von Elisabeth, ist der personifizierte Widerstand im Buch. So lange hat dieses Land das Individuum über alles gestellt, wenn etwas schiefgegangen ist, wenn du dein Business gegen die Wand gefahren hast – so wie George im Buch –, musst du etwas falsch gemacht haben. Obwohl eigentlich das System von Macht und Reichtum gegen den durchschnittlichen Amerikaner arbeitet.

Sam versucht sich als Kämpferin für Gerechtigkeit, warum scheitert sie?
Sam denkt, sie tut das Beste für ihre Freundinnen, aber das tut sie nicht. Sie hat die Erfahrung einer weniger Privilegierten, meint es gut, sie sieht, dass die Frauen in ihrem College, die in der Küche und als Reinigungspersonal arbeiten, nicht gut behandelt werden. Bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass jedes oder jedes zweite Jahr an einer amerikanischen Universität eine Riesenaufregung herrscht, weil ein Studierender oder eine Gruppe von Studierenden feststellt, dass das nicht fair ist, und Briefe und Proteste an die College-Verwaltung schreibt. Aber normalerweise ändert sich nichts. Ich habe mich gefragt, wie es sich wohl anfühlen muss für jemanden, der in der Küche arbeitet, wenn du alle drei Jahre zur persönlichen Epiphanie von jemand anderem wirst.

Was haben Sie beim Schreiben über Sam und Elisabeth gelernt?
Ich glaube, jeder Roman ist eine Art Zeitkapsel, in der der Autor sich in dem Moment befand. Als ich angefangen habe, dieses Buch zu schreiben, war ich, ehrlich gesagt, in einer etwas gereizten Stimmung, weil ich in New York City lebte. Wenn du in deinen Zwanzigern in New York lebst, ist das wie in einem College, in dem alle gleich zu sein scheinen. Jeder hat drei Mitbewohner. Jeder hastet vorwärts. Und dann erreichst du deine Dreißiger, die Leute heiraten, kriegen Kinder. Und auf einmal zieht irgend so ein Dichter, den du kennst, in ein fünf Millionen Dollar teures Backsteingebäude mitten in einem Park und du fragst dich, wie das sein kann. Und da beginnst du zu verstehen, dass manche Leute einfach sehr viel Geld im Hintergrund haben und andere jetzt und für immer ihr Stipendium zurückzahlen müssen.
Das hat mich, das muss ich zugeben, eine Zeit lang wirklich sehr beschäftigt. Als ich damit begann, dieses Buch zu schreiben, sah ich in Elisabeth eine von ihnen. Sie ist kein schlechter Mensch, aber sie hat diesen blinden Fleck, was ihren eigenen Wohlstand betrifft. Irgendwann habe ich begriffen, was eigentlich immer schon offensichtlich sein hätte müssen: Dass jemand aus der Mitte wie Sam oder, um ehrlich zu sein, auch ich, privilegiert ist: weil du eine Ausbildung erhältst, auch wenn dich diese Ausbildung einiges kostet, und weil du dich als amerikanische Staatsbürgerin nicht sorgen und keine Angst haben musst – wie diese Frauen in der Küche, die, wenn sie für sich selbst sprechen, Repressionen gegen ihre Familien fürchten müssen.

Aus einem Interview mit Elena Burnett und Courtney Dorning für NPR (National Public Radio), 6. Juli 2020, adaptiert für die Homepage von Petra Mayer. Aus dem Englischen von Bettina Wörgötter

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