5 Fragen an ... J. Courtney Sullivan

5 Fragen an ... J. Courtney Sullivan

Frau Sullivan, hat Ihre Familie irische Wurzeln?
Meine Urgroßeltern auf beiden Seiten wanderten in jungen Jahren nach Boston aus. Boston, wo ich aufwuchs, ist eine Stadt voll irischer Immigranten und deren Nachkommen. Ein Gefühl des Stolzes auf unsere irische Abstammung war ein wichtiger Bestandteil unserer Erziehung. Wir erhielten Unterricht im irischen »Stepptanz« und unsere Eltern hörten irische Musik. Im Alter von 22 Jahren habe ich mit meiner Familie Irland zum ersten Mal besucht. Wir fuhren nach Milton Malbay, in das Dorf, das meine Urgroßmutter mütterlicherseits verließ, als sie 16 war. Wir trafen Cousins und Cousinen, von deren Existenz wir keine Ahnung hatten. Es war eine sehr außergewöhnliche Erfahrung, und ich beschloss schon damals, dass ich eines Tages über diesen Ort schreiben würde. In All die Jahre erscheint er als Noras und Theresas Heimatdorf. Zehn Jahre später kehrte ich mit meinem Ehemann dorthin zurück und unterhielt mich mit vielen Bewohnern, um eine Gefühl für die Kinderjahre meiner Urgroßmutter zu bekommen, oder auch dafür, wie sich ihr Erwachsenwerden gestaltet hätte, wäre sie geblieben. Ich denke, diese Vorstellung zieht sich wie ein roter Faden durch alle meine Bücher: dass der Augenblick der Geburt einer Frau bestimmend ist dafür, was ihr zu werden erlaubt sein wird. Meine Urgroßmutter kam allein nach Amerika, so wie viele Frauen ihrer Generation, das hat mich fasziniert. Die Vorstellung, dass Mädchen, die zuhause nicht unbegleitet in die Stadt oder zum Tanz gehen durften, allein auf sich gestellt über einen Ozean geschickt wurden!

Wie wurde Ihr Interesse am Leben im Kloster geweckt?
Ich wurde katholisch erzogen und denke, dass ein gewisser Typ katholischer Mädchen sich von Nonnen angezogen fühlt. Schon allein die Kleidung und die Rituale wecken großes Interesse und fördern die Neugier nach dem »Innenleben« dieser Personen. Nonnen können sehr altmodisch und konservativ wirken und dennoch bilden sie als Frauen eine eigenständige Gruppe abseits der Männer, nicht definiert durch Heirat oder Mutterschaft, sie leben in einer Frauenwelt. Vor einigen Jahren erzählte mir meine Tante von einer engen Freundin der Familie, die schon bevor ich geboren wurde, in den siebziger Jahren, in ein Nonnenkloster eingetreten war. Sie war eine gebildete, liberale junge Frau, die alle überraschte, als sie ihr Gelübde ablegte. Meine Tante meinte, ich sollte sie treffen, wir würden einander sicher gut verstehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich – eine sehr »fehlerhafte« Katholikin – ihr zu sagen hätte. Schließlich schrieb ich ihr aber doch, und wir begannen zu korrespondieren. Ich erfuhr, dass sie die Literatur liebte und früher politisch aktiv war. Es folgte ein Nachmittagsbesuch im Kloster. Einige Zeit später kehrte ich dorthin zurück, blieb eine ganze Woche. Das Leben dieser Frauen interessierte mich sehr – die Gründe, weswegen jede einzelne von ihnen ins Kloster gekommen war und warum sie beschlossen hatten zu bleiben. All dies war sehr inspirierend für meinen Roman.

Welche Figur in Ihrem Roman ist Ihnen die liebste und warum?
Das ist schwierig zu beantworten, ein wenig so, als würde man eine Mutter nach ihrem Lieblingskind fragen. Die bei den Schwestern, Nora und Theresa, sind sehr verschieden, unterscheiden sich sehr voneinander, aber ich verstehe sie beide, ihre jeweiligen Schwierigkeiten, ihren spezifischen Charakter. Meine Zuneigung galt beiden. Als Autorin beginnt man eventuell einen Charakter zu zeichnen, den man nicht unbedingt gut leiden kann, aber wenn man seine Arbeit richtig erledigt, erhält man einen tieferen Einblick in das Innenleben dieser Person und versteht, warum sie geworden ist, wie sie ist. Man entwickelt ein gewisses Mitgefühl für jeden Charakter, über den man schreibt, sodass zuletzt alle in irgendeiner Weise zu Favoriten werden.

Sie sind sehr gut in der Beschreibung von Familienleben, Müttern, Vätern, Söhnen, Töchtern, Geschwistern und ihren Beziehungen untereinander. Wie würden Sie definieren, was Ihnen Familienleben bedeutet?
Ich komme aus einer großen Familie mit vielen Tanten, Onkeln und Cousinen. Wir sind ein lärmender, ungestümer Haufen. Mein Mann, der aus einer kleinen Familie stammt, wird sich nie an zwanzig Sullivans in einem Raum gewöhnen, die alle gleichzeitig sprechen. Wir sind in vieler Hinsicht sehr verschieden voneinander und doch tief verbunden. Die Unterschiede können zu humorvollen Ergebnissen führen, aber auch zu Schwierigkeiten. Ich finde, dass Familienbande in mancher Hinsicht sehr beengend sein können – wir spielen ja jeder eine Rolle in unserer Familie –, und es ist manchmal unmöglich, in einem anderen Licht gesehen zu werden, wenn man mittendrin steckt. Familie ist nicht immer einfach. Ich neige dazu, über komplizierte Verhältnisse zu schreiben, weil es mich fasziniert, wie stark der Zusammenhalt in einer Familie sein kann, sodass, sogar wenn Brüche stattfinden, zuletzt doch oft eine Art Pflichtgefühl und die gemeinsame Vergangenheit wieder zur Versöhnung führen. Ich liebe es, über Familie zu schreiben, weil vieles, was sich ereignet, von jedem Mitglied anders beschrieben wird. Zwei Personen können ein Ereignis auf ganz verschiedene Weise erleben und davon auf verschiedene Art geprägt werden. Auch die Vorstellung, dass es »erwählte« Familien gibt, interessiert mich sehr. Im Buch ist Theresa gezwungen, ihre Familie zu verlassen, und findet eine neue im Kreise ihrer Schwestern, der Nonnen. Noras erwachsene Kinder haben Partner, mit denen sie neue Familieneinheiten gründen, die mit der alten, aus der sie stammen, nichts mehr gemeinsam haben.

Bei der Lektüre von All die Jahre hat mich sehr beeindruckt, wie Sie über Vergebung schreiben – anderen und sich selbst vergeben. Würden auch Sie das als eine Art »roter Faden« in dem Buch sehen?
Unbedingt. In dieser Geschichte spürt man, dass Vergeben unglaublich schwer sein kann, und viel länger dauern als angenommen, aber letztlich ist es doch die einzige Möglichkeit, den Schmerz in einer Familie und in sich selbst zu heilen.

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