5 Fragen an ... Inès Bayard

5 Fragen an ... Inès Bayard

Liebe Inès Bayard, Ihr neuer Roman Steglitz ist 2022 in Frankreich erschienen. Geschrieben haben Sie ihn im Lockdown in Berlin. Wie hat sich diese Ausnahmesituation auf Ihr Schreiben ausgewirkt? Leni Müller, die Heldin des Romans, lebt ja – zumindest zu Beginn des Buchs – in einer Art selbstgewähltem Lockdown.
Ja, tatsächlich habe ich zu Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland mit dem Schreiben angefangen. Das war eine sehr seltsame und verstörende Zeit, die sich unweigerlich auf mein Schreiben ausgewirkt hat, ohne dass ich mir dessen vollkommen bewusst gewesen wäre. Ich habe damals selbst in Steglitz gelebt und am späten Nachmittag lange Spaziergänge unternommen, um auf andere Gedanken zu kommen. Daraus ist dann langsam die Welt für diesen Roman entstanden. Stadtwanderungen sind wichtig für mich, weil ich oft gepeinigte Charaktere entwerfe mit einem festen Fuß in der Realität. Es ist diese Dichotomie zwischen der offensichtlichen Gesundheit der anderen, die herumspazieren, und der abgrundtief instabilen Verfassung Lenis, die sich selber gar nicht als verloren wahrnimmt, sondern an ihrem natürlichen Platz, die mir ein sehr lebendiges und von vielen geteiltes Gefühl während des Lockdowns zu sein schien.

Die Straßen von Steglitz werden später zu Lenis Revier. Wie wichtig ist dieser Schauplatz für Sie, für den Roman? Oder ist der Großstadtbezirk austauschbar?
In meinem ersten Roman könnte man Paris durch eine andere Hauptstadt ersetzen, denke ich. Während ich bei Steglitz überzeugt bin, dass es mit einem anderen Viertel nicht funktioniert hätte. Das ist ein aus mehreren Gründen faszinierendes Pflaster. Erstens, weil es zwei Lebensformen vereint: auf der einen Seite ein Familienviertel ohne Geschichte, das Geborgenheit und Wärme bietet, und auf der anderen Seite den schrägen Irrsinn der Einkaufszentren und der großen Einkaufsstraßen, wo die Menschen massenhaft konsumieren. Die Energie verändert sich von einer Straße zur anderen. Man kann vollkommen allein oder umgeben vom Wahnsinn sein. Leni ist sehr einsam und im selben Moment, glaube ich, fühlt sie sich familiär und sozial extrem bedrängt. Das Paradoxe an dieser Frau ist, dass sie zwischen zwei Sehnsüchten schwankt, so wie dieses Stadtviertel. Sie sucht die Begegnung, doch sobald die Begegnung zustande kommt, fühlt sie sich gefangen in den Zwängen des Aufrechterhaltens einer sozialen Beziehung. Das große Fest am Ende des Romans bestätigt die Paranoia, die der Kontakt mit anderen in ihr auslöst.

Leni verdankt ihren Namen, das habe ich in einer französischen Besprechung von Steglitz gelesen, Heinrich Bölls Roman Gruppenbild mit Dame. Über den Einfluss von Elfriede Jelineks Werk auf Ihr Schreiben, haben wir schon bei Ihrem Debüt Scham gesprochen. Auch in Ihrem neuen Roman sind diese Bezüge interessant. Nicht nur zu Jelinek, sondern zum Beispiel auch zu Arthur Schnitzlers Traumnovelle. Was verbindet Sie mit der deutschsprachigen Literatur?
Die deutschsprachige Literatur hatte immer einen großen Einfluss auf mich, als Leserin und als Autorin. Das liegt vor allem an den Themen, speziell was Schriftstellerinnen wie Elfriede Jelinek, Marlen Haushofer oder Ingeborg Bachmann betrifft. Jede hat ihre persönliche Art in erzählender oder poetischer Manier Orte zu erkunden, die schwer zugänglich sind, weil sie sehr komplex zu beschreiben sind. Das Verrückte bei Bachmann ist, dass die Wohnung brennt mit dem Ich, das darin eingesperrt ist. Das Aufregende bei Jelinek ist die Ironie einer Post-Ibsen-Nora, die, nachdem sie ihren Mann verlassen hat, zur Sklavin ihres Chefs wird. Das Irre bei Haushofer ist, dass die Hausfrau ohne Geschichte verantwortlich für den Selbstmord von Stella ist, der Geliebten ihres Mannes. Das verhängnisvolle Schicksal dieser Frauenfiguren hat mich tief geprägt und mich ermutigt, diese Themen aufzunehmen und mich selber auf die Suche nach Zugängen zu geheimen Zonen zu begeben. Bei Arthur Schnitzler ist es ein bisschen anders, weil seine Traumnovelle einen in Wien herumwandernden Mann zeigt. Ich sage gar nicht, dass das weniger traurig oder plakativ wäre, aber wir wissen alle, dass die Erfahrung einer dem öffentlichen Raum ausgelieferten Frau immer eine andere sein wird als die eines Mannes. Bei Heinrich Böll unterscheidet sich der Ton seiner Erzählung ebenso sehr von anderen Autoren seiner Epoche, weil er sich in Gruppenbild mit Dame dazu entschließt, Leni in die Ruinen von Nachkriegsdeutschland zu schicken. Abschließend möchte ich sagen, dass Die verlorene Ehre der Katharina Blum mit Sicherheit der Roman von Böll ist, der mich am stärksten beeinflusst hat. Auch das eine Geschichte von Einsamkeit und Untergang.

Scham hatte eine extrem einprägsame, deutliche Eingangsszene, die den Fortgang des Romans klar konturierte. Steglitz beginnt viel harmloser, könnte man sagen. Doch es ist faszinierend, wie Sie von Beginn an eine unheimliche, undurchsichtige Atmosphäre schaffen, die eigentlich nie mehr weggeht. Die Heldin wird immer undurchschaubarer, unzuverlässiger, überrascht einen beim Lesen ständig. Wussten Sie von Anfang an, wo es Leni hintreiben wird?
Ich mache keinen genauen Plan, weder vor noch während des Schreibens. Ich kenne den Ausgangspunkt und den Schluss, aber zwischen diesen beiden Punkten überlasse ich die Figuren ihrem Schicksal. Das funktioniert oft bis zum Ende. Ihr Leben ist wie ein Laufband, ein Hamsterrad, das niemals stehenbleibt und aus dem man nicht aussteigen kann, ohne zu fallen. Leni glaubt, dass ihre Existenz in Steglitz, ihre Ehe, ihr Garten und ihre Einkaufswege eine unveränderbare Realität darstellen. Es reicht, dass sie einen Schritt aus ihrer Routine hinaustritt, einen kleinen Schritt aus ihrem gewöhnlichen Trott, um sich wie in einem Labyrinth zu verlieren. Das Undurchschaubare entsteht in diesem Roman, wenn die Figur ihre Umgebung nicht mehr richtig einschätzen kann, sie sieht sie nur noch durch ihre Phantasmen und Erinnerungen hindurch, die das ganze Verständnis dafür überlagern, was es heißt „in einer Gesellschaft“ zu leben. Was passiert, wenn man die Wirklichkeit überinterpretiert? Man wird der Verrückte, der mit sich selber spricht, während die anderen auf der Terrasse Kaffee trinken. Aber für den Leser ist es sehr wichtig, dass die Figur nicht so gesehen wird. Es ist diese scheinbar normale Konversation in einem abnormalen Kontext, die diesen Roman unheimlich und mysteriös macht.

Die Männer (Ivan, Lenis Mann, ihr Bruder und Kommissar Ziegler) sind so präsent im Leben dieser Frau und bleiben trotzdem irgendwie schemenhaft, werden fast eins. Wie würden Sie die Rollen der Männer in Ihrem Roman beschreiben?
Lenis Mann ist an sehr klaren Enden dieses Romans präsent. Er ist es, der Steglitz den Rücken kehrt, also auch der, der das physische und psychische Universum von Leni verlässt. Ich habe die Chronologie der Begegnungen mit den Männern des Romans absichtlich durcheinandergewirbelt. Es ist nicht einmal ganz sicher, ob Ivan tatsächlich mit Leni zusammenlebt, in dem Moment als Ziegler auftaucht. Der Bruder, der Vater, Ziegler, sie sind die Elemente des Romans, die Instabilität und die Unzuverlässigkeit der Erzählung erzeugen. Sie gehen, kommen zurück, geistern herum, nehmen in Beschlag, verschwinden, verwandeln sich. Sie haben mehrere Gesichter, sind zugleich verführerisch, bedrohlich und bedauernswert. Ihre Präsenz wie ihre Handlungen sind vergänglich und ihre Motive niemals klar benannt. Trotzdem stehen sie im Zentrum der Erzählung und formen eine Masse, die Leni zerstört, die nicht genau versteht, wer welche Rolle spielt. Ich glaube nicht, dass sie die Männer wirklich voneinander unterscheiden kann, da sie keine Individuen sind. Sie sind mehr wie ein Windstoß, der sie dirigiert, ohne dass sie den Druck im Rücken spürt.

Interview und Übersetzung: Bettina Wörgötter

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