5 Fragen an ... Inès Bayard

5 Fragen an ... Inès Bayard

Frau Bayard, Ihr Debütroman Scham hat eine ungeheure Kraft. Beim Lesen gerät man in einen Strom, der, ist man einmal hineingeraten, nicht mehr zu stoppen ist. Wie hat sich dieser Plot entwickelt, wo beginnt Ihre Geschichte?
Mit dem Schreiben dieses Romans habe ich in einer für mich schwierigen Phase begonnen. Ich hatte gesundheitliche Probleme, die mich in einen Zustand von Schwäche und Isolation versetzten. Und ich glaube, dass eben diese Situation ausschlaggebend für dieses „physische Schreiben“ war: eine Reflexion über die Qualen des weiblichen Körpers, den sehr schmalen Grat zwischen Verstand und Wahnsinn und wie äußere Ereignisse zu Frustration und Leid führen können.
Es ist außerdem das Jahr gewesen, in dem ich die Literatur von Elfriede Jelinek entdeckt habe und die ersten Aussagen rund um die Me-Too-Bewegung publik wurden. Ich schaltete mittags meinen Computer ein und stieß auf Tausende von Aussagen vergewaltigter, eingeschüchterter Frauen, die im Alltag belästigt werden und von einer Welt vollkommener Gleichgültigkeit umgeben sind. Die Kraft der Worte, die Stärke ihrer Erklärungen und Geschichten waren entscheidende Elemente für die Entstehung dieses Romans. Deshalb bin ich, wenn mir jemand sagt, dass mein Buch brutal sei, mit dieser Übereinstimmung durchaus zufrieden. Das bedeutet nämlich, dass mein Schreiben genau diese Gewalt nachahmt, die gegen Frauen ausgeübt wird.

Marie, eine starke, glückliche, fest in der Gesellschaft und in der Familie verankerte Frau, entschließt sich, nach der Vergewaltigung zu schweigen. Warum spricht sie nicht?
Es fällt mir schwer, einer Romanfigur Intentionen zuzuschreiben. Wenn ich mich darauf einlassen würde, wäre das wie ein Verrat an ihr, da ich mir nachträglich das Wie und Warum ihrer Reaktionen vorstellen würde. Was ich weiß, ist, dass ein maßgeblicher Teil unserer Gesellschaft nicht oder nur ungern bereit ist, die Rechte und Stimmen von Frauen zu berücksichtigen, sofern sich diese überhaupt zu Wort melden und im öffentlichen Raum behaupten können. Deshalb treibt ihr Schamgefühl Frauen so leicht in die Stille, aus Angst davor, von den Mitmenschen verurteilt oder verleugnet zu werden, vor den Folgen ihrer Enthüllungen im beruflichen und privaten Leben, vor der Langsamkeit und Ungerechtigkeit juristischer Entscheidungen und Entscheidungsträger, vor dem Druck, der von medizinisch-rechtlichen Urteilen ausgeht.

Hat #MeToo etwas verändert? Glauben Sie, es wäre jetzt leichter für Marie, über das, was ihr widerfahren ist, zu sprechen?
Für mich ist die Me-Too-Bewegung ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Feminismus. Sie ist nicht belanglos, wie uns einige glauben machen wollen. Aber sie ist natürlich auch noch nicht die Lösung, und eine Aussage kann nach wie vor zu einer sinnlosen Tortur werden. Momentan beobachten wir Umkehrphänomene. Frauen, die in sozialen Netzwerken von ihrer Vergewaltigung berichtet haben, werden heftig angegriffen, diskreditiert oder gar beschuldigt, gelogen und übertrieben zu haben und an einer Art denunziatorischer „Hexenjagd“ teilzunehmen. Wie in allen Kämpfen um Gerechtigkeit wird es auch hier immer Menschen geben, die Angst vor dem Verlust ihrer Machtposition haben und die deshalb beginnen, die Realität zu verdrehen.

Das Buch war auf der Longlist für den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis, wie ist das Buch sonst in Frankreich aufgenommen worden?
Das Buch kam sehr gut an, was mich sehr freut. Ich bin Lesern begegnet, darunter einigen Männern, die die Geschichte für übertrieben hielten (die Leichtgläubigkeit des Mannes beim Sex, Maries Schweigen, die Reaktionen ihrer Schwester und ihrer Mutter). Ich respektiere alle Ansichten, das ist so, wenn man schreibt. Nur eines möchte ich sagen: Ich versuche, allgemein bekannte Realitäten zu berücksichtigen. In einigen Ländern, wie Senegal oder Peru, wo ich mein Buch präsentieren durfte, ist das nicht bloß eines von vielen Themen, es ist eine wahre Plage der Gesellschaft. Vergewaltigung kann ein integraler Bestandteil der Geschichte eines Landes sein, so wie Waffen zum Beispiel. Wenn Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung nicht erlaubt ist, riskieren Frauen durch heimliche Abtreibungen ihr Leben, Fälle von Kindsmord mehren sich und die Selbstmordrate und das soziale Elend nehmen zu. Wir müssen uns des Grabens bewusst sein, der herrscht, zwischen den Rechten, die die Frauen vor Jahren in Frankreich hart erkämpft haben (und um deren Erhalt sie ständig kämpfen), und der Situation in anderen Ländern, in denen Grundrechte für Frauen völlig fehlen. In unserer Position ist es wichtig, diese Themen zu verstehen, sie anzusprechen und in einen Dialog darüber zu treten.

Bezüge zu den Werken von Elfriede Jelinek oder Ingeborg Bachmann erschließen sich einem bei der Lektüre von Scham fast von selbst. Wer sind Ihre Vorbilder, Bezugsgrößen, Referenzen?
Trotz der unzähligen Übersetzungen habe ich immer noch den Eindruck, dass deutschsprachige Literatur in Frankreich kaum bekannt ist. Auch mein Interesse und meine Bewunderung für die Arbeit von Elfriede Jelinek und Ingeborg Bachmann wurde vor allem durch mein Leben in Deutschland geweckt. Ihre Werke waren wie Lichter für mich. Malina ist ein komplexer, intelligenter und ein entschlossen moderner Roman, der zeigt, dass Bachmann nicht nur eine große Autorin und Lyrikerin ist, sondern, so wie Günter Grass oder Heinrich Böll, die Brillanz der großen Intellektuellen ihrer Zeit hatte. Sie hatte bereits die Phänomene von Dominanz und Gewalt, die die Geschlechterverhältnisse aus dem Gleichgewicht bringen, sowie die Probleme der Rekonstruktion von Sprache und das Nachkriegsdenken verstanden und analysiert. Genauso wie Jelinek, die meiner Meinung nach direkt in ihre Fußstapfen getreten ist. Sie hat einen bewundernswerten Stil, ist eine Meisterin der Metapher, und die Bilder, derer sie sich in ihren Texten bedient, sind einfach außergewöhnlich.
Ich habe zwar eine Textstelle von Perec als Motto genommen, aber in Wirklichkeit steht der Roman unter der Schirmherrschaft dieser zwei Autorinnen. Während des Schreibens lag Lust ständig auf meinem Schreibtisch. Als Autorin bin ich ihnen unendlich dankbar für die genauen Bilder und Empfindungen, die sie uns vermittelt haben. Es ist aufwühlend, darüber nachzudenken, dass Jelinek und Bachmann zu jenen Künstlerinnen und Künstlern gehören, die nicht mit der Suche nach dem Gewöhnlichen zufrieden sind, sondern das Absolute in ihren Texten suchen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich Jelinek im Roman direkt zitieren soll, aber am Ende bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie – ob es nun merkwürdig ist oder nicht – präsent sein sollte. Und dieser kurze Satz von ihr, so prägnant und trocken er auch sein mag, scheint die Leser, glaube ich, genauso berührt zu haben wie mich.

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