5 Fragen an ... Charles Pépin

5 Fragen an ... Charles Pépin

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dieses Buch zu schreiben?
Ich wurde 50 Jahre alt und dachte, dass es von jetzt an nicht mehr nur um das jung bleiben ging, sondern auch darum, gut zu altern. Ich befasste mich zu der Zeit mit den jüngsten Entdeckungen der Neurowissenschaften über die Funktionsweise des Gedächtnisses, insbesondere über die Materie selbst, aus der unsere Erinnerungen bestehen: Sie sind beweglich und formbar. Genau diese Flexibilität ist es, die es uns ermöglichen kann, gut zu altern und nicht in unserer Vergangenheit zu verharren. Ich hatte Lust, ein Buch zu schreiben, das die neue Philosophie der Vergangenheit herausarbeitet, die in der Lage ist, Lehren aus der Revolution der Neurowissenschaften zu ziehen: Mit seiner Vergangenheit zu leben, bedeutet vor allem, nicht in seiner Vergangenheit zu leben!

Der Philosoph Henri Bergson spielt in Ihrem Buch eine wichtige Rolle. Was hat er über die Eigenschaften des Gedächtnisses herausgefunden?
Bergson ist der erste bedeutende Philosoph, der das Gedächtnis zum Hauptgegenstand seines Denkens macht. Er zeigt uns, dass die Vergangenheit eben nie „Vergangenheit" ist, dass sie unbegrenzt in unserer Gegenwart fortbesteht, und dass unser Gedächtnis flexibel, beweglich und nie starr ist. Es bearbeitet unsere Wahrnehmung und unseren Geschmack, unsere Persönlichkeit. Vor allem aber zeigt er uns, dass wir nur dann wirklich frei sein können, wenn wir unsere gesamte Vergangenheit mitnehmen und sie in einer „kreativen Rekapitulation" nach vorne bringen. Er zeigt uns, dass sich unsere Freiheit darin entscheidet, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen, um daraus etwas Neues zu machen.

Inwiefern bestätigen die Neurowissenschaften die Entdeckungen der Philosophie in Bezug auf Erinnerungen?
Die Neurowissenschaften bestätigen die genialen Einsichten Bergsons über die formbare Natur unserer Erinnerungen und unsere mögliche Kreativität im Umgang mit ihnen, Nietzsches Vision einer instrumentellen und damit freien Beziehung zu unserer eigenen Vergangenheit und sogar John Lockes erste Einsicht in das „Ich erinnere mich, also bin ich". Sie ermöglichen es, die verfehlten Sichtweisen der klassischen Philosophen auf das Gedächtnis, das sehr oft abgewertet oder als bloßer Wissensspeicher konzipiert wird, zu überwinden. Aus diesem Grund wollte ich ein philosophisches Buch schreiben, das von den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften ausgeht, um unsere Beziehung zur Vergangenheit zu überdenken.

Welches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit ist Ihrer Meinung nach wünschenswert, und wie kann sich das auf das Leben des Einzelnen auswirken?
Man sollte versuchen, die gleiche Distanz zum Wiederkäuen der eigenen Vergangenheit und zur Illusion zu halten, man könne die Vergangenheit einfach abschütteln und „einen Schlussstrich ziehen". Die Herausforderung besteht darin, die richtige Distanz zur Vergangenheit zu finden, indem man akzeptiert, was man nicht ändern kann, aber auch indem man in unser Gedächtnis eingreift, wie es neue therapeutische Methoden vorschlagen, die durch die Revolution der Neurowissenschaften möglich geworden sind. Es geht darum, die Art und Weise zu finden, unsere Vergangenheit zu „erben", die es uns ermöglicht, nach vorne zu blicken: Die richtige Distanz zu unserer Vergangenheit kann uns klarsichtiger, freier und glücklicher machen.

Welche Entdeckung hat Sie beim Schreiben des Buches am meisten überrascht?
Die Tatsache, dass unsere Erinnerungen keine objektiven Daten sind, sondern Interpretationen, Erzählungen, und dass es daher möglich ist, mit ihnen zu arbeiten. Diese einfache, scheinbar technische Entdeckung der Neurowissenschaften eröffnet ein faszinierendes existenzielles Feld. Sie ist der Beweis dafür, dass es ein Spiel gibt, eine Freiheit in Bezug auf unsere Vergangenheit, so schwer sie auch sein mag. Wir sind das, was unsere Vergangenheit aus uns gemacht hat, aber wir sind nicht einfach nur das. Und je mehr wir verstehen, wie sehr wir Kinder unserer Vergangenheit sind, desto mehr können wir uns befreien und unsere Zukunft erfinden. Je mehr wir verstehen, wessen Erben wir sind, desto mehr können wir zu Gründern werden.

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