5 Fragen an ... Benno Gammerl

5 Fragen an ... Benno Gammerl

Lieber Benno Gammerl, in Ihrem neuen Buch betrachten Sie das queere Leben aus historischer Perspektive. Wie kamen Sie dazu und warum war es Ihnen so wichtig, dieses Buch zu schreiben?
Ich habe mich schon lange für die Geschichte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter*personen interessiert. Es ist ein faszinierendes Thema, und sicher hat mein Interesse auch damit zu tun, dass das ein Stück weit auch meine eigene Geschichte ist. Dann fiel mir auf: Es gibt noch kein Buch, das die deutsche queere Geschichte vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart in übersichtlicher Form einem breiten Publikum präsentiert, und zwar in all ihren Facetten: vom Aktivismus bis zum Alltag, von rechtlichen Fragen bis zu den Lokalen der Subkultur. Und weil ich mich als Forschender und Lehrender schon lange mit diesen Themen beschäftige, habe ich begonnen, dieses Buch zu schreiben.

Jahrelang hat sich die Geschichtswissenschaft nicht mit queeren Themen befasst, sodass es kaum Materialen gibt. Wie haben Sie für das Buch recherchiert?
Die queere Geschichte gehört noch immer zu den Randbereichen dessen, was gemeinhin als historisch relevant erachtet wird. Aber das ist natürlich Unsinn. Gesellschaftliche Dynamiken lassen sich nur wirklich verstehen, wenn man auch über Geschlechterhierarchien und den Umgang mit sexueller Vielfalt nachdenkt. Wie Familie gelebt wird, das ist doch eine zentrale Frage. Und allzu lange war dieses Familienleben dominiert von der Heteronorm: Papa bringt das Geld nach Hause, Mama kümmert sich, und wehe irgendjemand tanzt aus de Reihe! Jetzt ändert sich das immer rasanter. Das ist doch ein absolut wichtiger Aspekt von Geschichte. Genauso wie der Beitrag, den schwule, lesbische und trans* Aktivist*innen geleistet haben. Ohne ihren Mut und ihr Engagement wäre die heutige Gesellschaft weit weniger bunt und offen. Und aus den queeren Bewegungen heraus entstanden auch die ersten Arbeiten zur LSBTI* Geschichte. Inzwischen gibt es eine wachsende Zahl von hervorragenden Studien. Die queere Geschichte muss zwar immer noch um Anerkennung und Fördermittel ringen, aber sie hat schon vieles zu bieten. Am Ende des Buches gibt es einen Überblick dazu. Darauf konnte ich aufbauen. Außerdem auf meine eigene Forschung zum Gefühlsleben von Schwulen und Lesben in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren. Deswegen ist meine Geschichte wohl auch eine, die die Ambivalenzen betont. Denn wenn man auf das Fühlen schaut, dann liegt das Dunkle oft nah beim Hellen, die Angst nah bei der Freude. Diese Komplexität ist mir wichtig.

Welches der von Ihnen geschilderten historischen Ereignisse hat Sie am meisten fasziniert?
Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber da fällt es mir wirklich schwer, mich auf eine bestimmte Sache festzulegen. Es gibt ein Foto in dem Buch, aus dem Ost-Berlin der 1970er Jahre. Peter Ansorge, ein Aktivist der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin tritt da auf mit einer Nummer der Sally Bowles alias Liza Minelli aus dem Film Cabaret. Das ist ein tolles Bild. Und das ist für mich ein schillerndes historisches Ereignis. Da steckt so viel drin von dem Mut – und dem Spaß –, den manche queeren DDR-Bürger*innen damals hatten. Außerdem ist Sally Bowles ja eine Figur aus der Weimarer Zeit, in der Geschichte geht es auch darum, wie die Nazis immer stärker wurden und begannen, die Subkultur der 1920er Jahre zu zerstören. In diesem Bild, in diesem Moment überlagern sich also verschiedene Ebenen queerer Geschichte und das finde ich enorm spannend. Aber mindestens ebenso spannend sind auch andere Momente: die Konflikte zwischen dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee und der Gemeinschaft der Eigenen schon vor dem Ersten Weltkrieg, wobei es um unterschiedliche Auffassungen zur Homosexualität und zum Homo-Aktivismus ging; das Erscheinen der Transvestiten-Zeitschrift Das 3. Geschlecht in den frühen 1930er Jahren; der feministische Protest beim sogenannten Lesbenprozess von Itzehoe im Jahr 1974; oder die Anfänge der afro-deutschen lesbisch-feministischen Bewegung in den Jahren um 1990. Die queere Geschichte ist voll von außergewöhnlichen Augenblicken.

Anlässlich des Pride Month sind Sie Gast im NS-Dokumentationszentrum München und veranstalten eine Lesung als Begleitprogramm der Ausstellung „To be seen“. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht der Pride Month noch immer, um Aufklärung und Bewusstsein zu schaffen?
Ich freue mich darauf, das ist ein tolle Ausstellung. Sie zeigt die Abgründe und auch die Lebensfreude, die in der queeren Geschichte stecken. Solange queere Menschen angegriffen werden, in Clubs, auf Schulhöfen, bei Demonstrationen, in Deutschland, in den USA, in Indien und anderswo, solange ist es notwendig, an die Verfolgung, auch die im Nationalsozialismus, zu erinnern. In Deutschland formierte sich die erste Homosexuellenbewegung, viele Menschen auf der ganzen Welt schauten bewundernd vor allem auf Berlin in der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit. Und dann begannen die Nazis ihr Werk der Zerstörung. Viele gleichgeschlechtlich begehrende und gender-nonkonforme Menschen wurden in den KZs ermordet. Daran zu erinnern ist nach wie vor wichtig, auch im Kampf gegen rechte und religiös geprägte Homo- und Transfeindlichkeit. Allzu viele Menschen demonstrieren heutzutage gegen vermeintlichen Gender-Wahnsinn, gegen Regenbogenfamilien und gegen alle Lebensweisen, die ihre engen Horizonte sprengen. Dafür, wie kaputt eine Gesellschaft ist, die auf heteronormative Zwänge baut, und dafür, wie von der Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt letztlich alle profitieren, dafür gilt es immer wieder ein Bewusstsein zu schaffen, im Pride Month und an allen Tagen des Jahres.

Was wären die nächsten Schritte, die Sie sich von der deutschen Politik und dem deutschen Bildungssystem wünschen?
Vor kurzem wurde der Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz veröffentlicht. Endlich! Unter dem Transsexuellengesetz haben seit 1980 viele Menschen leiden müssen. Es bleibt zu hoffen, dass der Entwurf jetzt rasch durch den Gesetzgebungsprozess kommt, ohne dass wieder unsinnige, unnötig hinderliche oder menschenrechtswidrige Bestimmungen hineingeraten. Ein anderes Thema: Die Anliegen von queeren Geflüchteten, aus Syrien, der Ukraine und anderen Ländern, sind in letzter Zeit etwas aus dem Blick geraten. Sie müssen den besonderen Schutz bekommen, den sie brauchen und fordern. Und ein drittes: Für wohnungslose oder vom Wohnungsverlust bedrohte queere Menschen gibt es so gut wie keine Räume und Beratungsangebote. In Berlin macht das Projekt queerhome* jetzt einen Anfang. Mir würde noch mehr einfallen. Aber ich will noch etwas sagen zur Bildung. Das ist absolut entscheidend. Durch die ganzen letzten 150 Jahre zieht sich wie ein dunkles Verhängnis die Angst, dass es die Kinder und die Jugendlichen verderben würde, wenn sie etwas erführen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Das geht vom katholischen Volkswartbund über Christa Meves bis zu den sogenannten Demos für Alle. Dabei ist es doch genau andersherum. Ahnungslosigkeit macht wehrlos. Und nur wenn junge Menschen eine Vorstellung auch von den sexuellen und geschlechtlichen Möglichkeiten haben, die sich ihnen bieten, können sie sich frei entfalten und selbstbestimmt entscheiden. Wie, in welcher Form dieses Wissen altersgerecht vermittelt werden kann, darüber gilt es zu reden. Andere sind in diesen aktuellen Debatten viel aktiver and besser informiert als ich. Aber vielleicht regt mein Buch einige Leser*innen ja dazu an, sich intensiver mit diesen Diskussionen auseinanderzusetzen, sich da einzubringen. Das wäre großartig.

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