5 Fragen an ... Aris Fioretos

5 Fragen an ... Aris Fioretos

Aris Fioretos, worum geht es in Ihrem neuen Roman?
Die Hauptperson, zugleich die Ich-Erzählerin, ist eine 23-jährige Studentin mit dicken Augenbrauen und kurzem Haar. Sie mag Suzi Quatro, aber keine Ausrufezeichen. Sie zieht ein wenig das Bein nach. Und steht kurz vor dem Abschluss ihres Architekturstudiums. Ihr Freund nennt sie „eine Granate aus nie vergossenen Tränen“. Als die Handlung einsetzt, hat Mary gerade erfahren, dass sie schwanger ist. Am selben Abend wird sie vor ihrer Hochschule, in der sich die Studenten seit drei Tagen verbarrikadiert haben, um gegen die Junta des Landes zu protestieren, verhaftet. Als sie von der Sicherheitspolizei verhört wird, will sie weder sagen, wer sie ist, noch ihren Freund verraten, der einer der Anführer des Aufstands ist und noch nicht weiß, dass er Vater werden wird. Gleichzeitig weiß sie jedoch, sollten die Sicherheitsleute merken, dass sie ein Kind erwartet, werden sie das gegen sie verwenden. Die Uhr tickt also.
Am Ende des Buchs wird Mary vor einem Dilemma stehen, vor dem kein Mensch stehen sollte: Sie muss zwischen Kind und Freund wählen.

Mary ist durchgehend aus der Perspektive einer schwangeren jungen Frau erzählt. Welche Herausforderung war es für Sie, sich in diese Perspektive hineinzuversetzen?
Autoren gehören einer von zwei Gruppen an, vermute ich. Entweder schreiben sie über Umstände, die ihnen bekannt sind oder so vorkommen. Oder ihre Sehnsüchte gehen zum Fremden, zu dem, was sie nicht kennen oder persönlich erlebt haben. Ich gehöre sicherlich zu letzterer Fraktion. Als Autor interessieren mich Menschen und Umstände, mit denen ich nicht vertraut bin. Zwar bin ich Vater, habe aber kein Kind zur Welt gebracht. Dennoch glaube ich, es sollte für Menschen mit meiner Chromosomenkonfiguration nicht unmöglich sein, sich in die Rolle einer schwangeren Frau zu versetzen. Was wäre die Literatur ohne ihre Fähigkeit zur Empathie? Das Gefühl, etwas in sich zu tragen, das restlos aus einem selbst besteht, aber dennoch mehr ist als man selbst, dieses paradoxe Gefühl glaube ich nachempfinden zu können. Was könnte natürlicher und merkwürdiger sein, als das Gefühl, etwas in sich zu tragen, das zugleich, in diesem Inneren, seine eigene Außenseite hat.

Mary spielt im letzten Jahr der griechischen Militärdiktatur. Was bedeutet dieser historische Zeitpunkt für den Roman?
Ja, der Roman beginnt im November 1973. Auch wenn die Stadt und das Land namenlos bleiben, sind Ähnlichkeiten mit Athen und Griechenland sicherlich kein Zufall. Wie Sie wissen, haben die Studenten damals gegen das Militär protestiert. Nach drei Tagen wurde der Aufstand am Polytechnikum zwar niedergeschlagen. Die Regierung wurde umgebildet, der Chef des Sicherheitsdienstes neuer Führer; die Repressionen nahmen zu. Dennoch war der Aufstand das Ende für die Diktatur. Nach der Zypernkrise im folgenden Sommer fiel die Junta.
Mary gehört zu dieser Generation. Es sind die griechischen 68er, die aber wegen der Diktatur sozusagen mit Jetlag geboren wurden, erst 1973. Sie haben anschließend das Land aufgebaut und in den Wohlstand geführt, jedoch auch korrumpiert. Die Krise, die wir heute erleben, ist Teil ihrer krummen Erfolgsgeschichte. Darin spielt der Studentenaufstand eine prägende, wenn nicht identitätsstiftende Rolle. Gewiss war er bewundernswert, ja heroisch. Aber er ist auch zu einer recht männlichen Erzählung verhärtet worden, die kaum Zwischentöne, geschweige denn Selbstkritik erlaubt. Mich interessierte der ideologische Überbau nur in zweiter Linie. Ich wollte an die Geschichte in oder hinter der Geschichte herankommen, an die konkreten Erfahrungen der Frauen, die dabei und mitprägend waren, deren Erzählung bisher allerdings im Schatten geblieben ist.
Auch wenn die griechische Zeitgeschichte mir keineswegs unwichtig ist: Hätte ich das Land und das Volk beim Namen genannt, wäre die Gefahr da gewesen, dass die Taten und die Geduld, das Leiden und der Widerstand dieser Frauen nicht als solche gewürdigt würden. Ich möchte nichts verschweigen, eine abschließende Anmerkung zum Text spricht ja Ähnlichkeiten mit historischen Umständen an, aber letztlich ging es mir um diese Frauen und die Art von Gesellschaft, in der sie leben, und nicht darum, dass alles zufällig im Griechenland der 1970er Jahre passierte. Außerdem erlaubte mir diese Zurückhaltung von Fakten abzuweichen, sobald die Handlung es verlangte.

Im Roman wird sehr eindrucksvoll von der Solidarität der Frauen im Gefängnis erzählt. Wie haben Sie dafür recherchiert?
Im Laufe der Zeit habe ich mehrere Berichte gelesen, in Archiven gewühlt und mich durch YouTube geklickt, aber auch und vor allem mit Personen gesprochen, die damals dabei waren. Einige sind Frauen, die schon in den 1950er und 1960er Jahren auf den berüchtigten griechischen Gefängnisinseln inhaftiert waren. Sie alle haben mir über ihre Zeit dort, über die Bedingungen sowie über ihre Mitgefangenen erzählt. Manche, die sich damals in der vordersten Reihe des Widerstands befanden, hatten ihre Erlebnisse jedoch so oft erzählt, dass sie zu fertigen Geschichten erstarrt waren. Das passiert uns allen, fürchte ich, mehr oder weniger. Erzählen Sie eine Begebenheit aus Ihrem Leben ein paar Mal zu oft, verlieren Sie schnell die Beziehung zu den konkreten Details und Umständen. Aus dem Erlebten wird eine Anekdote, und erzählte Erinnerungen neigen dazu, stillschweigend Komplikationen und Widersprüchliches auszusortieren. Bei meinen Gesprächspartnern, die nicht besonders oft Auskunft über ihr Leben – in mancher Hinsicht sogar nie zuvor – gegeben hatten, merkte ich, da gibt es eine lebendige Beziehung zu den Einzelheiten des damaligen Daseins, sie sind noch nicht in den sklerotischen Formen des Nacherzählten aufgegangen. An diesen Dingen war ich interessiert. Ich wollte wissen, wie man Trinkwasser auf einer Insel gewann, die von Meer umgeben und deren einziger Brunnen verschlammt war. Was tat man, wenn man seine roten Tage bekam? Wie haben die Frauen sich gegen Kälte, Nässe, die Gewalt der gelangweilten Aufseher geschützt?
Sie haben nach den Herausforderungen beim Schreiben gefragt. Vor sechs, sieben Jahren, als ich anfing über das Buch nachzudenken, vermutete ich noch, das Schwierigste werde sein, aus der Perspektive einer schwangeren Frau zu erzählen. Mit der Zeit wurde jedoch klar, die größere Herausforderung bestand darin, die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Frauen zu schildern, wenn keine Männer dabei sind. Solch ein Reichtum an Zwischentönen – Kälte kann sich als Wärme erweisen, Nähe durch Abstand markiert werden. Personen meiner viereckigen Sorte haben davon nur wenig Ahnung.

Auf dem Cover ist ein Granatapfel abgebildet. Welche Rolle spielt diese Frucht im Roman?
Natürlich hat der Granatapfel eine lange religiöse und kulturelle Geschichte. Mir gefiel aber eher seine harte Außenseite und sein ebenso reiches wie sinnliches Inneres. Dieser Gegensatz schien mir Ähnlichkeiten nicht nur mit einem Buch zu haben, sondern auch und wichtiger mit der Art und Weise, wie Mary während ihrer Gefangenschaft zurechtzukommen versucht. Um sich und ihr Kind – ihre weiche Innenseite, wenn Sie so wollen – zu schützen, muss sie sich nach außen unnachgiebig geben. Da Gewalt nur Gewalt erzeugen würde, und dies das letzte sein dürfte, wozu eine schwangere Frau greifen würde, entscheidet sie sich für einen passiven Widerstand – will sagen: Sie schweigt.
Es gibt aber auch die Abschlussarbeit, die Mary schreiben muss, um ihr Studium zu beenden. Darin soll es um „Mehrfamilienhäuser in urbaner Umgebung“ gehen, sie ist allerdings noch nicht besonders weit gekommen. Ihr fehlt die zündende Idee, eine genaue Vorstellung dessen, wie mit Rücksicht auf jede Einzelwohnung gebaut werden kann. Erst als sie ein paar Monate vor dem Aufstand mit ihrem Freund auf dem Motorrad durch den Süden des Landes reist, versteht sie, wie sie verfahren soll. Nach einer schlaflosen Nacht auf dünner Unterlage frühstücken die beiden. Der Freund greift einen Granatapfel, wirft ihn hoch und lässt ihn in seinen Handteller fallen – und Mary erkennt: In diesem Apfel ist kein Kern wichtiger als ein anderer. So möchte sie bauen. „Das Zentrum ist überall.“

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