5 Fragen an ... Jostein Gaarder

5 Fragen an ... Jostein Gaarder

Jostein Gaarder, der Held in Ihrem neuen Roman ist ein komischer Kauz. Er geht auf die Beerdigungen fremder Leute und behauptet, er habe sie gut gekannt. Wie sind Sie auf diesen seltsamen Helden gekommen?
Es lässt sich nicht immer so leicht sagen, was eine Geschichte in Gang bringt. In diesem Fall weiß ich es einfach nicht mehr. Es fing mit dem ersten Kapitel an. Mein Held – oder Antiheld – besucht eine Beerdigung und die darauffolgende Gedenkstunde; der Verstorbene ist sein alter Professor in Altnordischer Philologie. Hier wird er nun in eine verwickelte Familiengeschichte hineingezogen, die sich erst am Ende des Romans aufklärt. Aber ich wusste nicht so recht, welche Richtung die Geschichte einschlagen würde, als ich das erste Kapitel schrieb, auch wenn durch die altnordische, germanische und indogermanische Perspektive die Tonart schon irgendwie vorgegeben war.

Jakop Jacobsen ist ein einsamer und sehr schüchterner Mann. Sie selbst haben Familie, Freunde und werden international als Erfolgsautor gefeiert. Was hat Sie gerade an diesem Einzelgänger interessiert?
Ich selbst bin zwar kein einsamer oder schüchterner Mensch. Aber ich hätte „Ein treuer Freund“ nicht schreiben können, wenn ich nicht doch etwas von dem Mann, über den ich schreibe, in mir hätte. Wir sind am selben Tag geboren, wir haben dieselben Fächer studiert, und er bewegt sich in Landschaften, zu denen ich selbst eine enge Beziehung habe. Jakop ist zudem nicht nur einsam und verzagt. Er leuchtet auf, wenn er in die Rolle seines Freundes Pelle schlüpft. Durch Pelle kommt er in Kontakt mit seiner eigenen Sonnenseite.
„Ein treuer Freund“ ist in gewisser Weise ein Roman über Einsamkeit, jedenfalls ist er das auch. Einsamkeit tritt in vielen Gestalten auf, und ich glaube, die allermeisten Menschen haben eine davon kennengelernt. Es gibt aber noch etwas, etwas Grundlegendes, das in allem zum Ausdruck kommt, was ich geschrieben habe, und das auch im letzten Kapitel von „Ein treuer Freund“ deutlich wird: Alle Menschen stehen in gewisser Hinsicht allein zwischen Himmel und Erde. Wir kommen nackt und einsam auf diese Welt, und hier werden wir von warmen Händen in Empfang genommen. Aber wenn wir eines Tages gehen müssen, sind wir uns selbst überlassen. Menschen, die behaupten, sich niemals einsam gefühlt zu haben, sollten darüber vielleicht noch einmal nachdenken …

Meistens schreiben Sie für Kinder und Jugendliche. Warum reizt es Sie, von Zeit zu Zeit einen Roman für Erwachsene zu schreiben, wie den „Geschichtenverkäufer“, „Die Frau mit dem roten Tuch“ oder jetzt „Ein treuer Freund“?
Ich schreibe eigentlich nie für eine bestimmte Altersgruppe. Aber manche Geschichten eignen sich besonders für Kinder und Jugendliche, und eine gute Geschichte für Kinder ist oft auch eine schöne Geschichte für Erwachsene. Denn in allen Erwachsenen wohnt ein Kind. Ab und zu taucht deshalb eine Erzählung (oder ein Plot) auf, die sich nur für Erwachsene eignet oder die nur Erwachsene verstehen können. „Ein treuer Freund“ ist eine solche Erzählung. Aber ich erlebe immer wieder positive Reaktionen von Erwachsenen jeden Alters, die „Das Kartengeheimnis“, „Sofies Welt“, „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ oder „Das Orangenmädchen“ gelesen haben. Das finde ich schön, denn die Bücher sind schließlich auch für Erwachsene geschrieben. (In Norwegen benutzen wir ab und zu den Begriff „Literatur für jedes Alter“, also für Bücher, die sich an alle Altersgruppen richten, an Kinder und Erwachsene. Mein „Weihnachtsgeheimnis“ ist so ein Buch, das in vielen norwegischen Familien während der Adventszeit vorgelesen wird.)
Das ist vielleicht vergleichbar mit dem, worüber man in einer Familie spricht und wann. Über manches redet man am Esstisch, wenn die ganze Familie dabei ist, mit anderem wartet man, bis die Kinder aus dem Haus oder im Bett sind. Dasselbe gilt in der mündlichen Erzähltradition, wie in den Volksmärchen. Viele Märchen, wie sie uns zum Beispiel bei den Brüdern Grimm begegnen, sind für die ganze Familie bestimmt. Niemand soll mir erzählen, „Aschenputtel“, „Frau Holle“ oder „Rapunzel“ seien reine Kindergeschichten. Es sind Kinder- und „Haus“-Märchen. Aber in der mündlichen Erzähltradition gab es auch Märchen, die nur für Erwachsene bestimmt waren und die erzählt wurden, wenn die Kinder schon im Bett lagen.
In „Ein treuer Freund“ gibt es viele Geschichten, der Roman ist wie ein Geflecht aus mehr oder weniger selbstständigen Geschichten, und diesmal also „für Erwachsene“.

Besonders gefallen hat mir eine Stelle im Buch, an der es heißt, Jakops eigentliche Familie seien die Wörter. Können Sie erklären, wie das gemeint ist?
Jakop lebt ganz und gar ohne Familie. Ihm fehlt die Verankerung oder Zugehörigkeit, die es in eng verbundenen Familien oft gibt. Eine solche erweiterte Identität findet er in seiner Sprache, einer Variante des Norwegischen, das wiederum eine Variante der germanischen Sprachen ist und Wurzeln bis zurück zum Urindogermanischen aufweist. Aber ich glaube, ich erteile Jakop selbst das Wort:

„Ich habe keine lebenden Kinder oder Enkelkinder und keine lebenden Geschwister oder Eltern, aber ich habe lebende Wörter in meinem Mund, und ich kann deutlich sehen, dass es von Verwandten dieser Wörter von Island bis Sri Lanka überall im indogermanischen Sprachraum nur so wimmelt ... Ich gehöre also einer Sprachfamilie an, der ich mich stark verbunden fühle. Hier haben meine Wörter ihre Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern, ihre Tanten und Onkel, ihre Vettern und Kusinen ersten, zweiten und dritten Grades. Ich überschaue die unterschiedlichen Zweige dieser Familie über einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden.“

Seit „Sofies Welt“ sind fünfundzwanzig Jahre vergangen. Hat sich Ihre Vorstellung von Ihrer Aufgabe als Schriftsteller seither verändert?
Ich habe mehr und mehr das Gefühl, mein Teil gesagt oder den Auftrag ausgeführt zu haben. Ein bisschen wie in dem lateinischen Ausdruck: „Dixi et salvavi animam meam.“ (Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet.) Ich habe versucht, allen Impulsen, die ich aus der Kindheit und Jugend mitgenommen habe, durch Erzählungen wie diese Fleisch und Blut zu geben und dieses eine zu sagen: dass die Welt ein unergründliches Mysterium ist, ein Rätsel, und dass das Leben ein wunderbares Abenteuer ist, nur viel zu kurz.
Trotzdem kann noch immer plötzlich etwas auftauchen, das ich seit vielen Jahren in mir trage, worüber ich aber noch nicht geschrieben habe. So ist „Ein treuer Freund“ entstanden. Hier hat der Philologe in mir Auslauf erhalten – und nicht zuletzt auch meine Begeisterung für die vielen uralten Erbwörter, mit denen wir jeden Tag zu tun haben, und für das, was wir Etymologie nennen.
Es ist auch vorgekommen, dass ich in meinem eigenen Werk so etwas wie „Lücken“ entdeckt habe. Ich blätterte einmal in „Sofies Welt“ und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass die allerwichtigste philosophische Frage unserer Zeit durch Nichtvorhandensein glänzte: Wie können wir die Lebensgrundlage auf unserem eigenen Planeten retten? Diese prekäre Frage wurde in dem großen Philosophieroman nicht einmal gestreift! Also musste ich mich hinsetzen und „2084 – Noras Welt“ schreiben, fast als Anhang zu „Sofies Welt“. In meinen Romanen gibt es oft ein Element der Vermittlung, wie die Geschichte der Philosophie („Sofies Welt“), die Todesangst der Spätantike („Das Leben ist kurz“), die Entwicklung des Lebens auf der Erde („Maya“) und jetzt also die indogermanische Sprachfamilie. Aber in erster Linie betrachte ich mich als Geschichtenerzähler.

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