5 Fragen an ... Andrea Grill

5 Fragen an ... Andrea Grill

Anders als in Ihren vorangegangenen Romanen, geht es in Cherubino nicht um einen Naturwissenschaftler, sondern um eine darstellende Künstlerin, eine Mezzosopranistin. Was hat Sie dazu bewegt?
Für mich befassen sich sowohl Das Paradies des Doktor Caspari (Zsolnay, 2015) als auch Cherubino mit der Frage, was macht einen Menschen zum Menschen. Liebe? Wissen? Kunst? Leidenschaft? Erfolg? In beiden Romanen stehen Körper als Behältnis für das Leben im Vordergrund, und die Widersprüche, die im menschlichen Dasein aus der Oszillation zwischen Geist und Körper resultieren. In meinem neuen Roman wollte ich über eine Frau schreiben, die sehr körperlich arbeitet und daher ganz von der Unversehrtheit ihres Körpers abhängig ist; dadurch kam ich auf die Sängerin. Sie musste eine Frau sein, weil ich erzählen wollte, wie aus dem Nichts ein Mensch entsteht. Von den ersten Zellen an. Aber auch als ein Wesen, das seinen Platz in einer Gesellschaft zugewiesen kriegt.
Ich finde, es gibt zu wenige Geschichten, die sich mit dieser Grunderzählung des Menschseins auseinandersetzen. Okay, die Weihnachtsgeschichte, und darin lassen sich sogar gewisse Parallelen zu meiner Romanhandlung entdecken. Aber ich wollte erzählen, wie in unserer Zeit in einer Frau ein neuer Mensch heranwächst.

Iris Schiffer, die Protagonistin, steht an einem entscheidenden Punkt sowohl ihrer Karriere als auch ihres Lebens. Die Frage kann nicht nicht gestellt werden: In wie weit hat das mit Ihnen selbst zu tun?
Iris hat einerseits viel mit mir zu tun, weil sie sich des Verfallsprozesses, dem sie als biologischer Organismus ausgesetzt ist, sehr bewusst ist. Sie weiß, sie ist nicht mehr jung, auch wenn die Umwelt ihr das noch suggeriert. Wie Iris frage ich mich, wozu das gut sein soll, wenn eine Gesellschaft uns bis Mitte vierzig jung nennt, um uns dann im Zeitraffer eines Fingerschnippens alt zu machen? Andererseits bilde ich mir ein, es doch leichter zu haben als sie. Ich muss mich nicht bei Vorsingen unter Beweis stellen, ich muss in meinem Aussehen nicht etwas erfüllen, das der Vorstellung eines Regisseurs entspricht. Als Schriftstellerin kann ich schreiben, solange ich einen Stift halten kann; auch mit 92 noch. Das ist das große Privileg meines Berufs. Für eine klassische Sängerin ist das anders. Sie weiß, ihre Stimme wird mit sechzig nie mehr so sein wie mit Mitte dreißig. Dadurch spitzt sich Iris’ Geschichte so dramatisch zu.

Ihre Protagonistin agiert selbstbewusst und selbständig. Entspricht das der Rolle der Frau in der Gesellschaft, wie Sie sie sehen?
So selbstbewusst und selbständig ist Iris meinem Empfinden nach gar nicht. Sie spielt das eher den anderen vor, weil es von ihr erwartet wird. Iris versucht kompromisslos zu leben, frei zu sein. Doch gerade ihre scheinbare Freiheit wird ihr zum Verhängnis. Sie darf alles selber machen, aber sie muss auch alles selber machen, vom Montieren des Ikea-Betts bis zur Entscheidung, ob sie ein Kind will. Sie darf allein leben, aber sie muss auch allein leben. In der Hinsicht ist Iris eine typische Frau zeitgenössischer demokratischer Gesellschaften, die ja doch die beste Form des Zusammenlebens sind, die ich kenne. Sie ist frei, das Kind zu bekommen oder auch nicht; und das ist beileibe eine große Errungenschaft. Aber sie ist in der Entscheidung völlig auf sich allein gestellt. Niemand hilft ihr dabei, und niemand hat sie darauf vorbereitet. Und was sie auch tut, man wird sie dafür kritisieren. Ich denke, das ist eine Erfahrung, die Leser auch machen werden; dass sie Iris – gegen ihren Willen vielleicht – unwillkürlich kritisieren dafür, dass sie scheinbar so egoistisch vorgeht. Wenn sie tun, was sie wollen, heißt das bei Frauen oft Egoismus, bei Männern hingegen Tatkraft.

Also ist der Roman ein klares Plädoyer für autonomes Handeln?
An sich schon. Aber er zeigt auch, wie schwierig das ist. Autonomes Handeln gilt, wie Erfolg haben, in unserer Gesellschaft als sehr erstrebenswert. Es gibt aber Umstände, die es sehr schwierig oder unmöglich machen, autonom zu handeln. Damit meine ich nicht nur die Umstände einer Schwangerschaft, aber in diesem Buch geht es darum. Gerade in der gehobenen Mittelschicht, der Iris entstammt, wird oft unterschätzt, wie fragil die Autonomie des Individuums eigentlich ist. Iris beschließt nicht aus freien Stücken, ihren Bauch vorerst zu verstecken; sie, die freigefochtene Künstlerin, erfährt ihre Schwangerschaft als echtes Risiko für ihre Karriere. Darin ist sie total fremdbestimmt. Leider hat Iris’ Angst auch in unserer Gegenwart ihre Berechtigung. Das zeigen Vorfälle wie im vergangenen Jahr an der Hamburger Oper, als eine Sängerin ihre Rolle verlor, sobald sie der Intendanz meldete, dass sie schwanger sei.
Ab dem Augenblick, in dem Iris den positiven Schwangerschaftstest in der Hand hält, wird sie fortwährend verletzlicher. Äußerlich gelingt es ihr vielleicht noch, diese steigende Sensibilisierung zu verbergen ebenso wie sie ihren wachsenden Bauch versteckt hält. Innerlich aber werden ihr Rollen wie die der Sophie in der Oper von Nicholas Maw, deren Kinder von den Nazis ermordet werden, fast zu einer Unmöglichkeit. Iris strebt danach, unabhängig zu denken und zu agieren, aber es stellt sich heraus, Liebe und Autonomie sind schwer zu vereinbaren.

Im Gegensatz zu Iris Schiffer sind die beiden Männer in ihrem Leben – der eine Tenor, der andere ein einflussreicher Politiker – ziemlich verhaftet in traditionellen Haltungen und Vorstellungen. Etwas Hasenfüßiges geht von ihnen aus, dennoch lässt sie Iris Schiffer immer wieder vom Haken, anstatt Entscheidungen zu verlangen. Eine starke Frau zwischen zwei schwachen Männern?
Da geht es nicht um Stärke, sondern um Liebe, auch um Rücksichtnahme, dieses altmodische Wort. Den Mann, den sie will, kriegt Iris nicht. Er schläft nur mit ihr. Seine Liebeserklärungen erschöpfen sich in Sätzen. Sie zwingt ihn trotzdem zu nichts. Weil sie ihn liebt. Die Größte aber unter ihnen ist die Liebe stand am Gewölbe der Pfarrkirche meiner Kindheit. Iris ist zwar nicht religiös, aber schon irgendwie gläubig auf eine mystische Weise. Die Liebe ist für sie das Größte. Deshalb liefert sie ihre Männer auch nicht aus. Nicht einander, aber auch nicht ihren Familien oder der Öffentlichkeit. Sie will, dass niemand leidet. Auch sie selbst nicht, natürlich. Das ist das Unreligiöse, das ganz Unkatholische an ihr. Darin ist sie sehr heutig. Gleichzeitig verweigert sie sich einer totalen Transparenz; sie will nicht um jeden Preis alles offen legen. Die Männer würde ich nicht als schwach bezeichnen, sie halten sich an getroffene Vereinbarungen, möchten vor allem den Status quo aufrecht erhalten, in dem sie sich bequem eingerichtet haben; Iris würde eigentlich lieber davon abweichen.

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