Buch
Deutschland 22,00 €
Gloria und Moni sind beste Jugendfreundinnen – die eine reich, die andere arm. Ein halbes Jahrhundert später begegnen sich die beiden Frauen wieder und Gloria beichtet ihr Lebensgeheimnis: Nie hat sie mit jemandem geschlafen. Früher kam Gloria immer gut an, war exzentrisch und schön, wollte Schauspielerin werden, war viel unter Menschen. Gloria und Moni wachsen auf im Mief der sechziger Jahre, sind konfrontiert mit Ehe, Enge und Gewalt. Wie wurden die beiden zu denen, die sie sind? Monika Helfer macht aus Lebenserinnerung große Literatur. Nach der Trilogie über ihre Familie und Herkunft ist „Die Jungfrau“ ein atemloser Roman über die jahrzehntelange Freundschaft zwischen zwei Frauen.
Erscheinungsdatum: 21.08.2023
152 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-27789-2
Deutschland: 22,00 €
Österreich: 22,70 €
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-446-27884-4
E-Book Deutschland: 16,99 €
Monika Helfer erinnert sich an ihren Bruder Richard. Seit dem Tod der Mutter wachsen sie und ihre Schwestern getrennt vom kleinen Bruder auf. Sie sehen sich selten, verlieren die Verbindung. Es ist die Zeit des Deutschen Herbstes. Richard ist da bereits ein junger Mann, von Beruf Schriftsetzer. Er ist ein Sonderling, das Leben scheint ihm wenig wichtig. Verantwortung übernimmt er nur, wenn sie ihm angetragen wird. So auch, als ihm auf merkwürdige Weise eine verflossene Liebe ein Kind überlässt, von dem er nur den Spitznamen kennt. Die unfreiwillige Vaterrolle gibt ihm neuen Halt, zumindest für eine Zeit. Ein inniges Portrait, eine Geschichte über Fürsorge, Schuldgefühle und Familienbande.
Erscheinungsdatum: 24.01.2022
192 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-27269-9
Deutschland: 20,00 €
Österreich: 20,60 €
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-446-27335-1
E-Book Deutschland: 15,99 €
Die Hörbuch-Ausgabe von »Löwenherz« wird von der Autorin selbst gelesen und erscheint bei der Hörverlag.
Details
Hörbuch CD, 4 CDs, Laufzeit: 4h 56min
ISBN: 978-3-8445-4505-0
So war mein Bruder Richard:
Er dachte beim Gehen ans Liegen,
beim Sitzen ans Liegen,
beim Stehen ans Liegen,
sogar beim Fliegen dachte er ans Liegen.
Dachte immer ans Liegen.
Er schlenderte vor sich hin auf seinen verqueren Beinen, wohin sie ihn eben führten, vor sich hin, der Kopf nämlich den Beinen voraus, der wurde ja nicht von der rauen Erde gebremst. Er hob flache Steine auf, ließ sie übers Wasser hüpfen, gern war er beim Wasser. Er bückte sich nach einer Blindschleiche, setzte sie sich auf den nackten Arm und summte ihr etwas vor, Going Up The Country von Canned Heat, und dachte sich dabei in einen fernen Dschungel, wo ihre großen Schwestern Angst und Schrecken verbreiteten. Ein anderer, der hatte verquere Arme, hatte ihm erzählt, Blindschleichen könnten Gesprochenes von Gesungenem unterscheiden, ebenso wie Schlangen. Auch Fische, sagte er, kommen angeschwommen, wenn man sich mit einem Kassettenrecorder und der entsprechenden Musik ans Ufer setzt und dabei selber eine Ruhe gibt.
Mein Bruder hatte den ganzen Tag über den ganzen Himmel in den Augen, und wenn die Blindschleiche dabei von seinem Arm fiel, kümmerte er sich nicht weiter um sie – jedem sein eigenes Durchkommen, ob Tier oder Mensch. Er sah aus wie der hübsche Bruder von Alan Wilson, dem Sänger von Canned Heat, der war damals schon seit zehn Jahren tot, er hatte sich mit siebenundzwanzig das Leben genommen – Richard würde es mit dreißig tun. Ein Hund lief ihm nach, einer, der verschiedenste Vorfahren vorzuweisen hatte, ein struppiger, knapp übers Knie hoher, eine Sympathie war gleich zwischen ihnen. Er begleitete ihn, bis es eindunkelte und die Sträucher wie Gespenster aussahen. Vor dem Haus, in dessen zweitem Stock er wohnte, bückte sich Richard zu dem Hund nieder und sagte und sprach zu dem Tier im Ton erst wie ein Lehrer zu einem Schüler, dann wie ein Priester zu einem Ministranten, zuletzt wie ein Komiker zu seinem Kompagnon auf der Bühne: »Bleib bei mir, geh nicht fort! Ich nenne dich, wie nenne ich dich, wie nenne ich dich, ich nenne dich: Schamasch. Du bist mein privater Sonnengott. Sei Gast in meiner Hütte, und wenn es geht, scheiß mir nicht in eine Ecke.« Die Zukunft würde geschehen. So oder so. Für Mensch wie für Tier. Ein Hölzchen in den Weg legen konnte man ihr immerhin.
In seinem Zimmer dann, klein wie es war, sah er sich nach einer Schlafstelle für Schamasch um und entschied, er solle auf dem Boden vor seinem Bett liegen, auf dem ausgedienten Wintermantel, den er dreimal schon zu mir gebracht und den ich dreimal geflickt hatte. Er gab dem Hund Unterricht. Beide liegend, Richard auf dem Bett, der Hund am Boden. Nicht nur Blindschleichen, Schlangen und Fische können zwischen Gesagtem und Gesungenem unterscheiden, sondern auch gewisse Säuger, meinte er bald herausgekriegt zu haben.
Wo Richard ging, ging von nun an auch der Hund, und der Hund folgte, wohin meines Bruders Beine führten. Richard schlug vier Eier in die Pfanne und teilte sie mit Schamasch. Er brachte dem Hund einen vernünftigen Blick bei. So gehöre sich das. Als er sich niederbückte, um das Fell zu streicheln, fand er, dass es schlecht rieche. Morgen, morgen wollte er Shampoo mit an den See nehmen und ihn ordentlich einseifen. Ein gutes Shampoo, falls Schamasch eine empfindliche Haut hatte unter dem struppigen Fell. Er betrat den Supermarkt, was mit einem Hund verboten war, spielte den Sehbehinderten, schob eine Flasche von dem feinen Nivea-Kindershampoo in seine Oberschenkeltasche, die auf derselben Höhe war wie das Maul mit den Zähnen seines Hundes, und ging an den Kassen vorbei, ohne zu bezahlen, starren leeren Blicks mit ausgestrecktem freiem Arm, den Hund an der kurzen Leine. Schamasch spielte mit, schaute vernünftig und verantwortungsvoll.
Nach einer Woche konnte der Hund alles, was Richard glaubte, dass ein Hund können müsse. Aus Dankbarkeit zog er sein Leintuch glatt, drückte sein Bettzeug auf der einen Hälfte an die Wand, die andere deckte er mit einem Kutzen ab, den er im See gewaschen hatte, mit demselben Shampoo wie den Hund, dort sollte der Schlafplatz für Schamasch sein. »Du hast die Probezeit bestanden.« Der Hund kapierte und rollte sich auf dem Platz ein.
»Er ist absolut stubenrein«, erzählte er mir, »ein vornehmer Hund, sogar mit dem Furzen hält er sich zurück, tut es erst, wenn wir auf der Straße sind.«
Beide schliefen sie lange und tief, und am Morgen roch einer wie der andere. Sie wachten auf zum Frühstück am Sonntag und legten sich gleich danach wieder hin. Richard hatte eine Stelle in Aussicht, er war ein seltener Fachmann, er gehörte zur Avantgarde der Arbeiterklasse, aber erst nach dem nächsten Sonntag, noch siebenmal schlafen, dann arbeiten.
Jetzt unten im Leseproben-PDF weiterlesen!
Monika Helfer schreibt fort, was sie mit ihrem Bestseller »Die Bagage« begonnen hat: ihre eigene Familiengeschichte. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021
Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. »Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.«
Erscheinungsdatum: 25.01.2021
176 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-26917-0
Deutschland: 20,00 €
Österreich: 20,60 €
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-446-26990-3
E-Book Deutschland: 4,99 €
Die Hörbuch-Ausgabe von »Vati« wird gelesen vom Autor selbst und erscheint bei der Hörverlag
Details
Hörbuch CD, 4 CDs, Laufzeit: 5h 30min
Regie Michael Köhlmeier
ISBN: 978-3-8445-4148-9
Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste. An dem eine andere Vergangenheit abzulesen wäre. Untertags und auch nachts denk ich an ihn, wie er da in seinem Lehnstuhl sitzt unter der Stehlampe, rundum die eigenen Kinder und fremde, zum Beispiel die vom Erdgeschoss. Ihr Ball rollt um seine Füße, unter den Stuhl, ihn schreckt es nicht. Er liest.
Auf der Fotografie, die ich über meinen Schreibtisch an die Wand geheftet habe, steht er links, abseits. Er sieht aus, als gehöre er nicht dazu. Auf allen anderen Bildern, die mir meine Stiefmutter gezeigt hat, steht unser Vater mitten unter den Leuten, unsere richtige Mutter an seiner Seite, so gehörte es sich, er war der Verwalter des Kriegsopfererholungsheims auf der Tschengla, 1220 Meter über dem Meer, der Gastgeber, auf den meisten Bildern lächelt er. Auf dem Bild über meinem Schreibtisch nicht. Meine Schwester Gretel und ich stehen vorne bei unserer Mutter, sie hat ihre Hände auf unsere Schultern gelegt. Niemand würde vermuten, der links auf der Seite ist unser Vater. Er sieht aus wie ein Städter, der dazugetreten ist. Zu dem einer gesagt hat: Komm, stell dich mit her! Von den anderen sind einige tatsächlich Städter, wahrscheinlich sogar die meisten, aber sie haben sich angezogen, als wären sie von hier, Janker mit Hornknöpfen, derbe hohe Schuhe, obwohl Sommer ist. Sicher wären sie gern von hier gewesen. Hier nämlich war das Paradies. Die Wiesen, die voll sind mit den buntesten Blumen. Ich kannte sie alle.
In den neunziger Jahren, da hatte ich selbst schon vier Kinder, war ich zusammen mit ihm zu meiner Schwester Renate nach Berlin gefahren. Er wollte das. Ich nicht. Ich fürchtete mich vor Peinlichem. Ich fürchtete mich davor, er würde irgendwelche Rätsel auflösen, würde mir von sich selbst erzählen, alles wäre mir peinlich gewesen, die harmlosesten Geschichten. Wenn man einen Menschen ein Leben lang kennt, und erst spät erfährt man, wer er im Grunde ist, dann kann man das vielleicht schwer ertragen. Es war schon Mitternacht, als wir ankamen, die Züge hatten fast zweieinhalb Stunden Verspätung gehabt, der Speisewagen war ausgefallen, wir waren erledigt und hungrig. Renate hatte nichts eingekauft, weil sie damit rechnete, dass wir fein essen gehen. Nun hatten die meisten Restaurants in der Umgebung schon zu, bis auf eines vis-à-vis, ein Schwulenlokal, dort könne man sehr gut essen und es werde auch keine laute Musik gespielt, das konnte unser Vater nämlich gar nicht leiden. Wir bestellten Sauerkraut und von dem Fleisch, das weich war und ein wenig grau aussah, und da winkte er den Kellner zu sich und fragte: »Wo geht es hier für kleine Mädchen?« Schallendes Gelächter im Lokal. Das hat ihm gefallen. Als er von der Toilette zurückkam, mit gebeugtem Rücken, humpelnd, setzte er sich zu den Männern mit der Schminke im Gesicht und den ausgeschnittenen Unterhemden und den trainierten, tätowierten Oberarmen, und sie haben ihm Schnäpse bezahlt und ihn hochleben lassen, er war der Kleinste unter ihnen, ein Grauer unter bunten Vögeln. Sie lachten, und er lachte mit. Sie lachten ihn nicht aus, sie wollten einfach nur lachen, und auch er wollte einfach nur lachen nach diesem anstrengenden Tag. Um meine Schwester und mich kümmerte er sich nicht mehr. Wir hörten ihn reden in einem Ton, den wir an ihm nicht kannten, laut und deutlich, sonst murmelte er so vor sich hin, oft musste man nachfragen. Einer von den Männern kam an unseren Tisch und sagte: »Setzt euch doch zu uns. Euer Vater ist ein Guter, ein wirklich Guter, wir mögen ihn gern.« Ich habe mir das wörtlich gemerkt und Renate auch. Damit meinte er – so später unsere Interpretation –, unser Vater, der so grau aussah, eben wie ein Beamter, der er ja auch war, obendrein ein Finanzbeamter, unser Vater sei ein bunter Mann in Wahrheit. Wenn Renate und ich uns daran erinnern, müssen wir sehr lachen – und laut, wie er gelacht hat. Mein Mann sagt dann, jetzt lacht ihr wieder so, weil ihr euch euren Vater vorstellt, wie er in Berlin war. Ich sage: »Da hast du recht.«
»Von uns wird man noch lange reden.« Monika Helfers neuer Roman »Die Bagage« – eine berührende Geschichte von Herkunft und Familie
Josef und Maria Moosbrugger leben mit ihren Kindern am Rand eines Bergdorfes. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs und Josef wird zur Armee eingezogen. Die Zeit, in der Maria und die Kinder allein zurückbleiben und abhängig werden vom Schutz des Bürgermeisters. Die Zeit, in der Georg aus Hannover in die Gegend kommt, der nicht nur hochdeutsch spricht und wunderschön ist, sondern eines Tages auch an die Tür der Bagage klopft. Und es ist die Zeit, in der Maria schwanger wird mit Grete, dem Kind der Familie, mit dem Josef nie ein Wort sprechen wird: der Mutter der Autorin. Mit großer Wucht erzählt Monika Helfer die Geschichte ihrer eigenen Herkunft.
Erscheinungsdatum: 01.02.2020
160 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-26562-2
Deutschland: 19,00 €
Österreich: 19,60 €
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-446-26732-9
E-Book Deutschland: 4,99 €
Die Hörbuch-Ausgabe von »Die Bagage« wird vom Autor selbst gelesen und erscheint bei der Hörverlag.
Details
Hörbuch CD, 4 CDs, Laufzeit: 4h 36min
ISBN: 978-3-8445-3798-7
Hier, nimm die Stifte, mal ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten! Dahinter der Berg – wie ein aufrechter Stein. Vor dem Haus eine aufrechte Frau, sie hängt die Wäsche an die Leine, die Leine ist schlecht gespannt, geknotet zwischen zwei Kirschbäume, einer steht rechts von der Veranda zur Haustür, der andere links. Jetzt gerade klammert die Frau eine Strampelhose fest und ein Jäckchen, also hat sie Kinder. Sie wäscht oft, die Sachen der Kinder und die ihres Mannes und ihre Sachen, sie besitzt eine besonders schöne weiße Bluse. Sie möchte, dass ihre Familie sauber ist wie die Familien in der Stadt. Sie hat viele weiße Sachen, da kommen ihre dunklen Haare und dunklen Augen und die dunklen Haare und die dunklen Augen ihres Mannes gut zur Geltung. Die anderen unten im Dorf tragen selten weiß, manche nicht einmal am Sonntag. Ein ernstes Gesicht hat sie, tiefe Augen. Die Augen male mit Kohlestift! Die Haare liegen eng am Kopf, sie sind schwarz, mit braun gemischt, weil der Kohlestift abgebrochen ist. Die guten Buntstifte glänzen nicht und sind außerdem teuer.
Die Wirklichkeit weht hinein in das Bild, kalt und ohne Erbarmen, sogar die Seife wird knapp. Die Familie ist arm, gerade zwei Kühe, eine Ziege. Fünf Kinder. Der Mann, schwarzhaarig wie die Frau, lackglänzend seine Haare sogar, ein Schöner ist er, doppelt so schön wie die anderen. Ein schmales Gesicht hat er, aber ohne Freude, wie es scheint. Die Frau, gerade noch dreißig ist sie, sie weiß, dass sie den Männern gefällt, nicht einen kennt sie, bei dem sie nicht sicher ist. Wenn ihr Mann sie an sich zieht, spürt er ihre Brüste und den Bauch, er hat es genau so schon gesagt, ihm wird schwarz vor Augen, und vor Müdigkeit lässt er sich aufs Bett fallen. Sie entkleidet sich hastig, legt sich neben ihn und weiß, er stellt sich nur schlafend, er will nicht versagen. Darum hat sie das dünne Unterhemd angelassen. Damit nicht alles gleich eindeutig ist. Sie schaut durch das offene Fenster hinaus in den Nachthimmel. Nicht einmal der Mond kommt hinter dem Berg hervor. Manchmal zieht er knapp vorbei, dann kann sie den Schimmer oben über dem Kamm sehen. Einmal schreit ein Kind, sie weiß welches, dann weint ein anderes, sie weiß welches. Aber ihr gelingt es nicht aufzustehen, müde ist sie nicht, sie denkt, träge bin ich halt. Wie alt werde ich werden, denkt sie.
Das Mädchen, zwei Jahre alt, steht vor dem Bett, mitten in der Nacht. Es ist Margarete. Die Grete. Sie zittert.
»Mama«, flüstert sie.
Die Mama flüstert auch: »Komm!«
Die Kleine kriecht zu ihr unter die Decke. Der Vater soll es nicht wissen. Das Mädchen legt sich nicht zwischen die Eltern, es legt sich an den Rand des Bettes. Es muss festgehalten werden, damit es nicht herausfällt, hinunter auf den Boden, das Bett ist nämlich hoch.
Das Mädchen war meine Mutter, Margarete, eine Scheue, die jedes Mal, wenn sie auf ihren Vater traf, sich duckte und nach dem Rock der Mutter schaute. Der Vater war liebevoll zu den andern vier Kindern, im Großen und Ganzen war er liebevoll, und er würde es auch zu den zwei später Geborenen sein. Nur dieses Mädchen verabscheute er, die Margarete, die meine Mutter werden wird, weil er dachte, dass sie nicht sein Kind sei. Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht. Er habe bis zu seinem Tod nie ein Wort mit ihr gesprochen. Und es sei ihr nicht bewusst, dass er sie jemals angeschaut hätte. Das hat mir meine Mutter erzählt, da war ich erst acht. Mein Großvater wollte mit der Scheuen nichts zu tun haben. Für meine Großmutter war das der Grund, die Scheue mehr als die anderen Kinder zu herzen und auch mehr als die anderen zu mögen. Maria hieß meine schöne Großmutter, der alle Männer nachgestiegen wären, wenn nicht alle Männer Angst vor ihrem Mann gehabt hätten.
Aber ich greife vor. Diese Geschichte beginnt nämlich, als meine Mutter noch nicht geboren war. Die Geschichte beginnt, als sie noch gar nicht gezeugt war. Sie beginnt an einem Nachmittag, als Maria wieder einmal die Wäsche an die Leine klammerte. Es war im frühen September 1914. Da sah sie den Postboten unten am Weg. Sie sah ihn schon von weitem.
Vom Hof aus hatte man Blick ins Tal hinunter bis zum Kirchturm, der über die Linden hinauf ragte. Der Postbote schob das Fahrrad, weil es steil aufwärts ging zu dem kleinen Haus, und der Weg war nach der Abzweigung nur noch grob geschottert. Der Mann war erschöpft, er wollte Adjunkt genannt werden, Postadjunkt war die offizielle Bezeichnung für seinen Beruf, er trug eine Uniform mit glänzenden Knöpfen, er schwitzte, hatte die Krawatte gelockert, den Kragen geöffnet. Er nahm die Kappe ab, nur kurz, zum Gruß und zum Lüften. Maria trat einen Schritt zurück, als er ihr den Brief entgegenhielt. Es war ein blauer Brief mit einem losen Abschnitt vorne drauf, den man abreißen sollte. Dieser Abschnitt musste unterschrieben und zurückgesandt werden an den Absender. Der Staat war der Absender, der wollte einen Beweis in Händen halten. Der Adjunkt wusste, dass sie wusste, dass sie ihm gefiel und noch mehr. Auch wusste er, dass er ihr gleichgültig war. Er war nicht halb so fesch wie Josef, ihr Mann, mit dem finsteren Blick, wenn fesches Aussehen überhaupt halbiert oder verdoppelt werden konnte.
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Für Die Bagage (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane Vati (2021) und Löwenherz (2022).
Liebe Frau Helfer, Sie haben nun drei Romane veröffentlicht, die ihren erzählerischen Ursprung in Ihrer eigenen Familiengeschichte haben. Wussten Sie von Beginn an, dass es mehrere Bücher werden sollen? Nach der Bagage dachte ich, es ist doch schade, dass noch so viele Fragen offengeblieben sind, man von einigen Personen nichts weiß, und so habe ich beschlossen, ein zweites Buch zu schreiben. Ich dachte an meinen Vater und fand, er eigne sich wunderbar für mein zweites Buch. Dieses spielt in den Fünfziger-jahren, gibt also ganz neue Fragen auf.
Nun erscheint der dritte Roman mit dem Titel Löwenherz. In diesem Buch steht Ihr Bruder Richard im Zentrum. Warum eignet er sich so gut als literarische Figur, dass Sie ihm einen ganzen Roman widmen wollten? Richard war ein ungewöhnlicher Mensch mit überbordender Phantasie, er konnte leicht ein Buch füllen.
Löwenherz ist weitestgehend in den 1970er Jahren angesiedelt. Wie haben Sie selbst diese Zeit erlebt, was war das für eine Zeit? Ich habe mich für Politik interessiert, und obwohl ich mit zwei kleinen Kindern auf dem Land lebte und die Politik nur über die Medien erfahren habe, hat mich die Entwicklung sehr interessiert. Ich war naiv und von dem Phänomen Baader-Meinhof fasziniert.
Sie machen aus Lebenserinnerungen wundervolle Literatur. War Schreiben für Sie schon immer eine Form des Erinnerns und Bewahrens? Und kostet diese Art von Literatur nicht auch viel Kraft? Schreiben ist mein Beruf und ich nehme die Sache ernst. Ich denke, jede Art von Literatur fordert eine Schriftstellerin und einen Schriftsteller.
Von Band zu Band schreiben Sie sich weiter an die Gegenwart heran. Zwischen den 1970ern und heute liegen noch rund fünfzig Jahre. Ist in dieser Reihe ein viertes Buch denkbar, in dem Sie sich mit Ihrer Familie auseinandersetzen? Mit der Trilogie endet die Geschichte meiner Familie.
Unser Service für Sie: Jeden Freitag schicken wir Ihnen per Notify, Telegram oder Mini-Newsletter einen literarischen Gruß zum Wochenende auf Ihr Smartphone. Zitate, Gedichte und Kommentare von unseren Autorinnen und Autoren. Natürlich völlig kostenlos für Sie.
Unser Newsletter informiert Sie nicht nur über aktuelle Bücher, Neuigkeiten aus dem Verlag und Termine, sondern liefert auch Interviews, Notizen und Hintergrundtexte von und mit unseren Autor*innen. Inklusive persönlicher Leseempfehlung, Zitat des Monats und Gewinnspiel.