Kommentar der Übersetzerin
Der moderne Roman, das bin ich: Gustave Flaubert und Madame Bovary
Emma Bovary ist eine der berühmtesten Frauen der Welt. An der Wiege gesungen wurde ihr dies Schicksal gewiss nicht, der kleinen Bauerntochter aus der Normandie, die einen beschränkten Landarzt heiratete und sich langweilte in der spießbürgerlichen Provinz, die von Paris träumte und nie weiter kam als bis nach Rouen, die sich nach leidenschaftlichen Liebhabern verzehrte und vorlieb nehmen musste mit einem pomadisierten Provinz-Don Juan und einem blassen Notariatsgehilfen, die alle Grenzen ihrer Herkunft überschreiten wollte und am Ende zum Arsen aus der Apotheke gegenüber griff. Im „Bovarysmus“ gab sie sogar der Jahrhundert-Krankheit den Namen, aus dem eigenen, als unzureichend empfundenen Leben in Traum und Illusion zu entfliehen. Ruhm und Unsterblichkeit verdankt sie ihrem Schöpfer Gustave Flaubert, doch auch dessen Roman war, sieht man sich die Moden der damals dominierenden Romantik an, eigentlich kaum zum Ruhm geschaffen, ist doch die mediokre Geschichte der armen Emma Bovary in ihrer grauen Provinz das strikte Gegenteil des Grandiosen und Exotischen, des Farbigen und Pittoresken, ist der bewusste Widerspruch gegen Traum und Sehnsucht der Romantik. Einen solchen Roman hatte es noch nie gegeben. Und trotzdem, ja gerade deshalb wurde er zu einem ungeheuren Erfolg und zum Fanal einer neuen Literatur.
Madame Bovary. Sitten in der Provinz, sein Erstling aus dem Jahre 1857, machte Gustave Flaubert zum Begründer des modernen Romans, ohne den die Erzählkunst des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht denkbar ist. Seine Wirkung beschrieb Émile Zola schon 1895 in seinem Buch Les romanciers naturalistes: „Als Madame Bovary erschien, bedeutete das eine vollständige literarische Umwälzung. Es schien, als wäre die Formel des modernen Romans, die im riesigen Werk Balzacs bereits verstreut vorhanden war, nun auf den vierhundert Seiten eines einzigen Romans konzentriert und ausgesprochen worden. Der Code der neuen Kunst war niedergeschrieben. Madame Bovary besaß eine Klarheit und eine Vollkommenheit, die aus ihr den typischen Roman, das definitive Modell des Genres machte.“ Diese Einschätzung hat sich in den gut 150 Jahren seither nicht verändert, und so sagt Milan Kundera in seinem grundlegenden Essay Die Kunst des Romans (1986): „Madame Bovary: zum ersten Mal ist ein Roman soweit, die höchsten Ansprüche der Poesie zu erfüllen (die Intention, ‚vor allem die Schönheit zu suchen‘; die Bedeutung jedes einzelnen Wortes; die intensive Melodie des Textes; der für jedes Detail geltende Imperativ der Originalität).“ Und der Titel der kleinen Monographie des Romanisten Hans-Martin Gauger lautet kurz und bündig: Der vollkommene Roman: Madame Bovary (1986).
Natürlich ist Madame Bovary keinesfalls nur literarische, sprachliche Perfektion für Kenner, nicht l’art pour l’art und stilistische Meisterschaft allein; hier findet man zugleich einen fesselnden, indiskreten Roman mit bodenständiger Handlung und wirklichen, ganz gegenwartsnahen Figuren, eine skandalöse Ehebruchsgeschichte um Liebe, Verrat und Geld, das ungeschminkte Porträt einer Frau und ihrer Leidenschaft, das keine Leserin und keinen Leser kalt ließ – ein Buch, so provozierend und erregend, dass ihm die Staatsgewalt wegen „Unmoral“ den Prozess machte. Auf fast unglaubhafte Weise vereint Madame Bovary die äußersten Extreme: ein Roman, der in seinem raffinierten Stil und seiner bis ins Kleinste durchgestalteten Sprache als unübertreffliches Kunstwerk galt und zugleich als erstes Meisterwerk der jungen Strömung jenes „Realismus“, dem die „Idealisten“ seine alltäglichen, trivialen Sujets, seine groben Figuren und sein Interesse an den schäbigen, nur wenig erhabenen Seiten der menschlichen Spezies vorhielt. Realismus und l’art pour l’art – Madame Bovary ist beides und ist beides nicht, steht allein wie die großen Meisterwerke der Literaturgeschichte.
Wissenschaft und Literaturkritik haben die Gründe für diese Ausnahmestellung genau untersucht. Flaubert wollte den Roman als Kunst auf eine Höhe bringen, die der ästhetischen Vollkommenheit der kanonischen Gattungen vergangener Jahrhunderte, also Poesie und Drama, entsprach. Er hat rund fünf Jahre an seinem Roman gearbeitet und dabei diese Vollkommenheit in jeder Hinsicht gesucht: in der Sprache, ihrer Grammatik, ihrem Klang, ihrem Rhythmus, der Präzision seiner Wortwahl; doch ebenso in der gedanklichen Durchdringung und der so ganz plastischen, geradezu sinnlich nachspürbaren Darstellung des Geschehens, im dramatischen Aufbau des Ganzen und jeder einzelnen Szene; und nicht zuletzt in den realistischen Details von Orten, Schauplätzen und Figuren, von historischen, geographischen und regionalen Zusammenhängen. Die Vollkommenheit der Madame Bovary liegt, kurz gesagt, in der unauflöslichen Verbindung alles dessen.
Madame Bovary ist von zahlreichen Mythen umwoben, und wie es so häufig geschieht, sind in diesen Mythen Wahrheit und Erfindung eng miteinander verflochten. Das beginnt natürlich mit dem Mythos des „Einsiedlers von Croisset“, der zur Verblüffung der Ausflügler auf der Seine seine Sätze zur Erprobung von Rhythmus und Klang über die Wasser brüllte, und das endet durchaus noch nicht mit dem Skandal des Verbotsprozesses, der aus der kleinen Landarztgattin Emma Bovary im Gedächtnis der Öffentlichkeit die faszinierende femme fatale machte und aus dem Buch mitunter gar einen Schlüssellochroman. Dazu gehört weiterhin eine lange Tradition, die auf die „wahren Hintergründe“ der Handlung aus ist und in der Entschlüsselung von Namen und Orten die eigentliche Deutung des Romans erkennen will, oder aber, im Gegenteil, in der Hauptfigur den Autor selber: „Madame Bovary, das bin ich.“
Zu den durchaus ernsthafteren Mythen zählen aber auch zahlreiche Dinge, die mit Flauberts Stellung in der Literatur seiner Zeit zusammenhängen oder mit seinen eigenen Aussagen über sein Werk. Zunächst ist das Flauberts Position zwischen Romantik und Realismus. Aus den kruden, skandalumwitterten, eben realistischen Details der Geschichte leitete ein Teil der zeitgenössischen Leser und Kritiker umstandslos Flauberts Zugehörigkeit zur „Schule des Realismus“ ab; jeder Leser aber wird heute sehen, dass Figuren wie Charles und Emma durchaus nicht einfach naturgetreue Ebenbilder des Lebens selber sind. „Aus Hass gegen den Realismus habe ich diesen Roman angefangen. Aber genauso wenig ausstehen kann ich die falsche Idealität, mit der wir heutzutage zum Narren gehalten werden“, schreibt Flaubert am 30. Oktober 1856 an Edma Roger des Genettes, und doch ist er selber nicht ganz unschuldig an verschiedenen Missverständnissen. Immer wieder werden seine Äußerungen zitiert, in denen er sich zur „Objektivität“, zur „impassibilité“ des Stils bekennt oder in denen er wiederholt, der Autor müsse aus seinem Werk abwesend sein. Nun wird der Leser jedoch überall Stellen finden, an denen der Autor sehr deutlich zu erkennen gibt, was er von seinen Figuren und dem Geschehen hält; sei’s, dass er Charles‘ Konversation als „platt wie ein Gehsteig“ bezeichnet; sei’s, dass er die ersten, tastenden Gehversuche des zukünftigen Liebespaars Emma und Léon mit bösester Ironie lächerlich macht, sei’s dass er in den Liebesdialog von Emma und Rodolphe den „Mist“ und den „Merinoschafbock“ der Landwirtschaftsausstellung auf eine gerissene Art hineinmontiert, die durchaus mehr ist als mitleidlose Beschreibung, nämlich mitleidlose Erfindung. Man könnte auch umgekehrt sagen: alles in Madame Bovary ist ausschließlich so arrangiert, so ausgedrückt, wie es nicht die „Realität“, sondern der Autor Gustave Flaubert wollte.
Will man den Streit über den „Realismus“ der Madame Bovary erklären, so muss man sich tatsächlich in die Position des zeitgenössischen Lesers versetzen. Für diesen Leser war weder Erotik als solche schockierend noch die Schlüpfrigkeiten einer Ehebruchsgeschichte; dies war aus den trivialen „Dienstmädchenromanen“ allgemein bekannt. Verstörend aber war die Verbindung dieser Motive mit der bürgerlichen Welt und einer Alltagsgeschichte von nebenan; verstörend war, dass eine Landarztgattin wie du und ich zur Heldin eines großen Romans werden sollte; und verstörend war, dass all dies offenkundig ohne die Konsequenz einer moritatenhaften Moral daherkam; der Prozess im Januar 1857 wird davon noch Zeugnis ablegen.
Die „Vollkommenheit“ des Romans gehört in gewissem Sinne auch zum Mythos der Madame Bovary hinzu, hat dieser Ruf doch auch zu vielen Missverständnissen geführt. Die sprachliche Vollkommenheit des Romans ist nämlich keinesfalls gleichbedeutend mit Eleganz, Brillanz oder Schwung, auch nicht mit der definitiven Perfektionierung der klassischen, traditionellen französischen Sprache. Flauberts Prosa sollte die Gralshüter des klassischen Französisch noch lange bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein ärgern, und sie ist auch durchaus nicht immer elegant, brillant oder schwungvoll, sie folgt keineswegs dem inneren Elan eines feurigen, natürlichen rhetorischen Temperaments. Nein, Natürlichkeit oder Eleganz waren niemals das Ziel Flauberts. Im Gegenteil, was dem französischen Leser sofort ins Auge sticht (oder ins Ohr), ist etwas ganz anderes: Flauberts Prosa ist Kunst, seine Sprache ist eine künstlerische Sprache, die sich von der alltäglichen Sprache, wie gepflegt diese auch immer sei, deutlich unterscheidet, und dieser Kunstcharakter ist von Anfang bis Ende spürbar. Er ist spürbar, und sei es zuweilen auch durch eine ungeheure Angespanntheit, eine Konzentration, eine Härte, die den Satz mitunter zu sprengen drohen, wohl auch manches Mal schwer verständlich machen. Und zugleich ist sie eine erkennbar moderne Kunstsprache, die nie auf rhetorische Überwältigung setzt, wie häufig das gigantische, bewunderte und bedrohliche Vorbild Victor Hugo, sondern allein auf den Anspruch, den Dingen, Figuren, Handlungsweisen mit der Sprache so nahe zu kommen wie irgend möglich.
Flauberts Arbeit am Stil des Ganzen und an jedem einzelnen Wort, seine Manie, jeden Satz immer wieder laut aus dem Fenster zu brüllen, sind sprichwörtlich geworden, und er hat sie selber oft beschrieben, so am 19. September 1852 an Louise Colet, als er an Kapitel II des Zweiten Teils arbeitete: „Was habe ich meine Bovary satt! Dabei fange ich an, mich ein wenig damit zurechtzufinden. Nie im Leben habe ich etwas Schwierigeres geschrieben als das, was ich jetzt mache, einen trivialen Dialog! Diese Szene im Gasthof wird mich vielleicht drei Monate kosten, ich weiß es nicht. Ich möchte manchmal heulen, so sehr spüre ich meine Ohnmacht. Aber lieber krepiere ich darüber, als dass ich sie weglasse. Ich muss in ein und derselben Unterhaltung fünf oder sechs Personen darstellen (die sprechen), mehrere andere (über die gesprochen wird), den Ort, an dem sie sich befinden, die ganze Gegend, indem ich Leute und Dinge physisch beschreibe, und muss inmitten von allem einen Herrn und eine Dame zeigen, die anfangen (durch Übereinstimmung ihrer Geschmacksrichtungen), sich etwas ineinander zu verlieben. Wenn ich bloß noch Platz hätte! Aber alles muss ziemlich rasch gehen ohne trocken zu sein, entwickelt werden, ohne platt zu sein, und dabei muss ich mir für die Folge Details aufsparen, die hier eindringlicher wären. Ich werde jetzt alles zügig machen und in großen aufeinanderfolgenden Gesamtskizzen vorwärtsgehen; wenn ich sie mir wieder vornehme, wird es vielleicht gedrängter werden. Der Satz für sich selber macht mir große Mühe. Ich muss in geschriebenem Stil Leute von äußerster Gewöhnlichkeit sprechen lassen, und der Schliff der Sprache nimmt dem Ausdruck viel Malerisches weg!“ Das Ziel dieser unendlich angespannten Arbeit war nicht Eleganz, es war die Wahrheit des Gesagten in der Wahrheit des Ausdrucks.
Am 4. September 1852 schreibt Flaubert an Louise Colet: „Ich gelange zu einer Art ästhetischem Mystizismus (wenn die beiden Worte zusammenpassen), und ich wollte, dass er stärker wäre. […] – Wir sind ein wenig zu früh gekommen. In fünfundzwanzig Jahren wird der Kreuzungspunkt wundervoll sein.“ Dieser „ästhetische Mystizismus“ bedeutet für Flaubert, dass nur das wahr sein kann, was richtig ausgedrückt ist. Im Werk selbst wird das nur an einer einzigen Stelle sichtbar: in seiner Schönheit – aber nicht in einer dekorativen, äußeren Schönheit, sondern in einer Schönheit, die darin besteht, dass sich Inhalt und Form vollständig decken. So wie in der Musik ein falscher Ton das Stück, in der Malerei eine falsche Farbe das ganze Bild zerstören, so ist in der Literatur ein falsch gesetztes Wort nicht ein bedauerlicher Lapsus, es stellt das ganze Werk in Frage. Natürlich wurde das schon von Zeitgenossen als obsessive Übertreibung gewertet: „Sie sagen mir, dass ich der Form zu große Aufmerksamkeit schenke“, heißt es am 12. Dezember 1857 in einem Brief an Mademoiselle Leroyer de Chantepie. „Ach! das ist wie Körper und Seele; Form und Idee sind für mich ein und dasselbe, und ich weiß nicht, was das eine ohne das andere ist. Je schöner eine Idee, desto wohlklingender der Satz; seien Sie dessen versichert. Die Genauigkeit des Gedankens bewirkt (und ist sogar) die des Wortes.“ Viele Jahre später hat Flaubert das noch einmal wunderbar wiederholt: „Die Bemühung um äußere Schönheit, die Sie mir vorwerfen, ist für mich eine Methode“, schreibt er am 10. März 1876 an seine Freundin George Sand, und er betont damit den ganz handwerklichen Sinn seines „ästhetischen Mystizismus“. „Wenn ich in einem meiner Sätze eine schlechte Assonanz oder eine Wiederholung finde, bin ich sicher, dass ich im Falschen herumplansche.“ Flauberts feste Überzeugung war es, dass es für alles, was er sagen wollte, nur ein richtiges Wort, einen richtigen Satz gebe, und den galt es zu finden, koste es, was es wolle.
Vielleicht liegt an dieser Stelle der Bruch, der Flaubert unwiderruflich von seinen Vorgängern trennt: in der radikalen Konzentration auf das Schreiben und auf den geschriebenen Text. Stendhal war noch Abenteurer, Soldat, Salonlöwe, Opernfanatiker, und das Schreiben war für ihn eine Beschäftigung unter anderen, und der Roman eine Form unter mehreren. Ist Stendhal, der 1842, nur fünfzehn Jahre vor Madame Bovary starb, der letzte Nachfahre des achtzehnten Jahrhunderts, so Flaubert der erste Vorläufer des zwanzigsten. Wie nur Franz Kafka wurde ihm das Schreiben mit dem Leben identisch, und es überrascht nicht, dass Kafka einer der großen Flaubert-Verehrer ist. Mit Flaubert wird das Schreiben, wird die Literatur zu etwas anderem, das mit größter Radikalität betrieben werden muss. Henry James hat das gesehen: „Flaubert hatte die bewundernswerte und soviel ich weiß bis auf den heutigen Tag unübertroffene Eigenschaft, Bücher von außergewöhnlichem künstlerischen Wert zu hinterlassen, deren Plan ihm jedoch nicht half, in heiterer Gelassenheit über sie nachzudenken. Der Schritt zur Ausführung, sobald die Ausführung wirklich in die Deichsel gespannt wird, ist natürlich immer und überall ein heikler Augenblick – zu dem übrigens in letzter Zeit zu viel geschrieben wurde –, doch wir sehen Flaubert häufig seine eigenen Themen verfluchen, bedauern, dass er sie ausgesucht hat, sich deswegen lustig machen über sich selbst und sie verabscheuen, während er an ihnen arbeitet.“ Flaubert ist der Romancier, der konsequent gegen seine Epoche arbeitet, der die Literatur selbst als diese Gegen-Arbeit versteht. Seine Radikalität führt ihn dazu, die Kunst definitiv als eine Sache aus eigenem Recht zu betreiben, ohne Blick auf die Moral, die Politik, die Regeln, die Menschen der alltäglichen Welt. Darin ist ihm die moderne Literatur gefolgt.
Flaubert selber hat mit den wenigen folgenden Werken von Salammbô bis Bouvard und Pécuchet seine eigenen Konsequenzen in Bereiche weitergetrieben, zu denen ihm das Publikum dann nicht immer gefolgt ist; seine Kanonisierung zum Klassiker war dann Sache des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Erstling Madame Bovary aber hat in mehrfachem Sinne Geschichte gemacht. Einzigartig blieb er in seinem Doppelgesicht zwischen Kunst und Skandal. Geplant und geschrieben als Versuch, die Perfektion des Stils zu erreichen, wurde er zum populären „Bestseller“. Dabei ist es bis heute geblieben.
Elisabeth Edl