Kommentar der Übersetzerin
Mein Tolstoi
Von Rosemarie Tietze
Mein Tolstoi besteht aus Wörtern. Na und, werden Sie jetzt vielleicht sagen, woraus denn sonst. Oh, kann ich da nur antworten, es gibt endlos viele Tolstois neben dem Schriftsteller: den Gottsucher, den Volkslehrer, den Moralisten, den Gesundheitsapostel, den Gutsherrn, den streitbaren Zeitgenossen usw. usf. Und diese Tolstois bestehen oftmals aus Bildern, Ideen, Vorstellungen, Vorurteilen auch, lassen sich gar nicht in klare Worte fassen. Ich kenne das, seinerzeit hatte ich selbst ein derartiges Tolstoi-Bild aus zweiter und dritter Hand, ohne scharfe Konturen.
Als ich in den achtziger Jahren an der Übersetzung von Sofja Andrejewnas Tagebüchern saß, bestand “mein Tolstoj” vor allem aus Biographischem, aus dem Ehemann und Familienvater. Und da jeder Übersetzer, so irgend möglich, sich mit dem Original und seinem Verfasser identifiziert – das verlangt schon die Berufsehre! –, war ich damals natürlich völlig auf Sofja Andrejewnas Seite, ergriff innerlich Partei für sie, wenn es zu einem Ehezerwürfnis kam, was ja nicht selten passierte, hielt ihr die Hand, wenn sie litt, wiegte schon mal bedenklich den Kopf über ihre Schwärmerei für Tanejew, bewunderte aber stets ihre Lebensleistung und suchte auf jeden Fall ihren Alltag und ihre Gefühle getreulich und farbig wiederzugeben – mit weiblicher Solidarität.
Mein Tolstoi heißt Anna Karenina
Heute heißt mein Tolstoi Anna Karenina. Heute ist mein Tolstoi kein vages Bild, sondern ein Text – konkret, handfest, überprüfbar. Bei der Neuübersetzung des Romans leitet mich natürlich eine andere Parteilichkeit als bei Sofja Andrejewnas Tagebüchern. Jetzt ist Treue zu Lew Nikolajewitsch oberstes Gebot, Treue zu seinem Original, das ich verteidigen werde mit Zähnen und Klauen. Gegen wen verteidigen, fragt sich da, bei so viel kriegerischer Emphase. Nun, die Gegner sind zahlreich, schließlich liege ich im Wettstreit mit den rund zwanzig (20!) bisherigen deutschen Fassungen von Anna Karenina. Und auch wenn ich nicht finde, ein Neuübersetzer müsse durch Geringschätzung der Vorgänger das eigene Profil schärfen, auch wenn ich mich wohlfühle in solch starker Kollegenreihe – sähe ich nicht im Original Facetten, die im Deutschen bisher noch nicht dargestellt wurden, hätte ich die Neuübersetzung nicht in Angriff genommen. (Ein klein bisschen, mit aller gebührenden Vorsicht, möchte die Übersetzerin den Verfasser der Anna Karenina auch gegen seine Landsleute in Schutz nehmen. Unter ihnen läuft nämlich das Gerücht um, “schön” habe er ja eigentlich nicht geschrieben, der geniale Dichter.)
Mein Tolstoi besteht aus Wörtern
Mein Tolstoi besteht also aus Wörtern. Aus Sätzen. Aus dem Stoff, den Lew Nikolajewitsch aus russischen Wörtern und Sätzen gewebt hat. Da muss ich eindringen, muss die Machart erkunden und das Gewebe dann mit deutschen Kett- und Schussafäden nachbilden. Zunächst einmal ist die “Verweildauer” des Übersetzers pro Wort und pro Satz ja viel größer als die des Lesers, größer auch als die des Kritikers oder Literaturwissenschaftlers. Gleichsam kurzsichtig, die Augen zusammengekniffen und die Nase dicht am Stoff, bewege ich mich langsam am Original entlang. Natürlich registriere ich dabei, wie straff und trickreich die Handlungsstränge verknüpft sind; natürlich delektiere ich mich unterwegs an Tolstois atemberaubendem Erfindungsreichtum, was die Details angeht – denken Sie nur an die berühmte Mottenfängerei des Advokaten, als Karenin sich nach den Bedingungen einer Scheidung erkundigt. Aber mein Hauptinteresse gilt dem sprachlichen Mikrokosmos. Was enthüllt er dem Übersetzerauge, was fällt auf, wenn ich den Blick gleichsam durch die Lupe auf den Text richte?
Literatur arbeitet mit Wiederholungen
Gerade Wiederholungen schweißen einen Text zusammen, sie verschaffen ihm Rhythmus, besondere Energie. Dass Wiederholungen vom Übel seien, gehört ins Stilarsenal der Deutschlehrer; doch selbst wer sich von solchen Klippschulregeln freigemacht hat, wird bei Anna Karenina ein übers andre Mal verblüfft den Kopf schütteln: Was Tolstoi sich hier bei den Wiederholungen erlaubt, ist schlichtweg unerhört.
Wenn schon im zweiten Absatz das Wort “dom” (“Haus”, aber auch “Heim”, “Familie”) gleich achtmal auftaucht, so verwundert das uns nicht – Tolstoi stellt unmissverständlich klar, er bleut uns ein, worum es ihm geht im Roman. Gut.
Aber was ist mit dieser aufdringlichen Wiederholung des Verbs “sagen” an folgender Stelle:
(Anna am Morgen nach dem Geständnis, bei dem sie ihrem Mann die Beziehung zu Wronski offenbart hat:)
“… die Worte waren gesagt, und Alexej Alexandrowitsch war abgefahren, ohne etwas gesagt zu haben. ‘Ich habe Wronski gesehen und es ihm nicht gesagt. Noch in dem Augenblick, als er ging, wollte ich ihn zurückholen und es ihm sagen, überlegte es mir aber anders, weil es sonderbar war, warum ich es ihm nicht im ersten Augenblick gesagt hatte. Weshalb wollte ich es sagen und tat es nicht?’”
(… ????? ???? ???????, ? ??????? ????????????? ?????, ?????? ?? ??????. «? ?????? ????????? ? ?? ??????? ???. ??? ? ?? ????? ??????, ??? ?? ??????, ? ?????? ???????? ??? ? ??????? ???, ?? ?????????, ?????? ??? ???? ???????, ?????? ? ?? ??????? ??? ? ?????? ??????. ?????? ? ?????? ? ?? ??????? ????»)
(Zu diesem sechsfachen Gebrauch kommt noch ca. zehnmal “sagen” im weiteren Umkreis des Zitats hinzu!) Da war sich die Übersetzerin erst nicht ganz sicher – was macht er hier denn wieder, mein Autor, muss das sein? Bis sie zu der Erkenntnis fand: Ja, es muss! Das vielfache “sagen” wird zur Qual, wird zu den Gitterstäben des Käfigs, in dem Anna durch ihr Geständnis nun sitzt.
Wiederholungen bis an die Grenze des Erträglichen
Immer wieder treibt Tolstoi die Wiederholungen bis an die Grenze des Erträglichen. Und vielleicht verweist da seine Schreibkunst auf besondere Weise ins 20. Jahrhundert; jedenfalls fühlt sich die Übersetzerin bisweilen an Gertrude Steins “Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose” erinnert.
Auch der Satzbau enthält häufig Wiederholungsschleifen, lange “dass”-Serien beispielsweise. Solche Spiralbewegungen halten den Text nicht auf, im Gegenteil, sie beschleunigen ihn, verleihen ihm Tempo. Der Roman ist trotz seines gehörigen Umfangs ein auffällig “schneller” Text, der Leser “rutscht” ohne anzuhalten durch diese Prosa, und dieses “Süffige” verdankt sich oft den Wiederholungen. “When you read Tolstoy”, sagt Vladimir Nabokov, “you read just because you cannot stop.”
Tolstois vielgerühmte Charakterisierungskunst
Tolstois geniale Charakterisierungskunst ist vielgerühmt, ich brauche hier nicht auszuführen, wie lebendig, plastisch und eindringlich er seine Figuren sieht und zeichnet. Dabei ist mir etwas aufgefallen, ein Verfahren, das ich so noch bei keinem Schriftsteller gefunden habe – ob es eine Tolstoische Eigenheit ist, das möge die Literaturwissenschaft ergründen, das kümmert mich nicht, jedenfalls scheint mir diese Eigenart in den bisherigen deutschen Fassungen noch nicht genügend gewürdigt zu sein.
Hören Sie sich den folgenden Kapitelanfang an:
„Sergej Iwanowitsch Kosnyschew wollte sich von der geistigen Arbeit erholen, und statt sich seiner Gewohnheit nach ins Ausland zu begeben, kam er Ende Mai zum Bruder aufs Land. Seinen Überzeugungen nach war das allerbeste Leben das auf dem Land. Um dieses Leben zu genießen, kam er nun zu seinem Bruder. Konstantin Lewin freute sich sehr, zumal er diesen Sommer Bruder Nikolai nicht mehr erwartete.“
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Und so weiter. Eine recht trockene Satzfolge, würde ich sagen, was ins Auge fällt, da Tolstoi die Kapitelanfänge besonders sorgfältig baut und es sich hier auch noch um den Anfang des dritten Buchs handelt. Wieder wundert sich die Übersetzerin, bis ihr schließlich dämmert: Aber da kündigt sich doch schon im Satzbau der Diskussionsstil von Sergej Iwanowitsch an! Seine sture Rationalität, die fast brachiale Logik, mit der er wenig später den eher emotional argumentierenden Lewin plattwalzt.
Ähnliches geschieht auch im Umkreis anderer Figuren, am deutlichsten bei Karenin, dem betrogenen Ehemann. Natürlich spricht er so dröge, wie das von einem Beamten zu erwarten ist. Aber nicht nur in der wörtlichen Rede, sondern weiträumig um Karenins Person herum schwelgt Tolstoi in Bürokratismen. Es ist, als würde die Stimme des Erzählers so stark in den Bann der Figur geraten, die sie gestaltet, dass sich die Erzählerstimme unwillkürlich der Figur anpasst. Auch dieser Kunstgriff trägt dazu bei, dass wir Tolstois Figuren persönlich zu kennen glauben, dass wir seinen virtuosen Rollenwechseln atemlos folgen. Nicht nur “Madame Karénine, c’est moi” könnte Tolstoi sagen, sondern dasselbe auch vom Ehemann, von Sergej Iwanowitsch und vielen anderen, bis hin zur Jagdhündin Laska.
Soweit ein paar Entdeckungen aus Übersetzersicht. Aber was rede ich, was erkläre ich. “Mein Tolstoi” ist natürlich das fertige Buch, die neue deutsche Anna Karenina.
Rosemarie Tietze hat Tolstois Anna Karenina bei Hanser neu übersetzt.