5 Fragen an ... Vera Bischitzky

5 Fragen an ... Vera Bischitzky

Frau Bischitzky, der Roman von Iwan Gontscharow, den Sie jetzt neu übersetzt haben, ist ein ganz ungewöhnlich schönes Buch, und trotzdem heißt er Eine gewöhnliche Geschichte. Warum? Was bedeutet dieser Titel?
Es wird eine Geschichte erzählt, deren Höhen und Tiefen nicht wenige Menschen durchlaufen, zu jeder Zeit, in jeder Generation und in jedem Land. Tauschen wir die Dekorationen aus und „aktualisieren“ manche Gepflogenheiten und Umgangsformen, so sehen wir, dass alles beim Alten geblieben ist, getreu der jahrtausendealten Erkenntnis des Kohelet: „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne“.
Es ist immer und überall die gleiche, ganz und gar „gewöhnliche Geschichte“: Alexander Adujew, ein zwanzigjähriger junger Mann, bricht voller Tatendrang aus der Provinz in die Hauptstadt auf, ein jugendlicher Träumer mit großen Ambitionen, ein Idealist, Romantiker, Enthusiast mit hehren Vorstellungen von ewiger Liebe und Freundschaft, ja, ein wahrer Kindskopf und verhätscheltes Muttersöhnchen. Vor unseren Augen durchläuft er alle Stadien der „Schule des Lebens“. Aus der ursprünglichen Euphorie wird Enttäuschung, hochfliegende Pläne und Tatendrang wandeln sich zu Gleichgültigkeit und schließlich Abstumpfung, die Skepsis wird zu Resignation, um nach einer Zeit der Reife in „ganz gewöhnlichen“ Pragmatismus zu münden.

Iwan Gontscharow hat drei große Romane geschrieben. Die meisten Menschen kennen aber nur einen, nämlich den weltberühmten Oblomow. Weshalb ist das eigentlich so?
Das ist wirklich bedauerlich und wird sich jetzt hoffentlich ändern. Ich kann mir auch nicht recht erklären, warum ein so brillanter Erzähler wie Iwan Gontscharow mit seinem hintergründigen Witz, der Komik, feinen Ironie, großen Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe im Ausland im Schatten seiner Zeitgenossen Tolstoi oder Dostojewski steht. Vielleicht liegt es daran, dass seine Werke (neben den Romanen viele Erzählungen, die fulminante, von Esprit nur so sprühende Beschreibung einer Weltumseglung u.a.) nichts Ideologisches, Spektakuläres an sich haben und, wie gerade angedeutet, „gewöhnliche“ Probleme „gewöhnlicher Menschen“ behandeln. Thomas Mann hat von der „heiligen“ russischen Literatur gesprochen, von ihrem hohen moralischen Wert, doch Gontscharows Bücher haben nichts „Heiliges“ oder Moralisierendes an sich, sie belehren weder, noch versucht er sich als Heilsbringer. Die quasi religiöse Überhöhung trifft auf sein Schaffen nicht zu. Gerade dies aber scheint außerhalb Russlands besonders zu faszinieren.

Eine gewöhnliche Geschichte erzählt vom Gegensatz zwischen dem alten, ländlichen Russland und der Großstadt Sankt Petersburg. Der Roman erschien 1847, ist das nicht schon ein sehr modernes Thema?
Gontscharow war ein sehr hellsichtiger Autor, ein Seismograph der Zeitläufte. Die Bewegung vom Land in die Stadt, vor allem in die neue Hauptstadt St. Petersburg, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebte, war in den 1840er Jahren bereits in vollem Gange. Auch er selbst hatte das bequeme Leben in der weitab gelegenen verschlafenen Provinzstadt Simbirsk gegen jenes in der Metropole eingetauscht und kannte demnach beide Welten und die jeweiligen Fallstricke sehr genau. Aus diesem Grund kreisen seine drei großen Romane Eine gewöhnliche Geschichte, Oblomow und der im Deutschen als Die Schlucht bekannte letzte Roman auch sämtlich um das Thema Provinz versus Hauptstadt. Wie ein roter Faden durchzieht sie die Gegenüberstellung von Land und Stadt, althergebrachtem, verharrendem, patriarchalischem und europäisch, modern geprägtem Leben, von Familie und überkommenem sozialem Gefüge auf der einen und Individualismus, Egoismus und Vereinzelung auf der anderen Seite, von Stagnation und Aufbruch und auch der Zerrissenheit der jeweiligen Helden zwischen beiden Sphären und der Suche nach ihrem Platz in der Welt.

Und ist der Roman nicht auch sehr interessant für das Verständnis von Russland überhaupt?
Mein Eindruck ist, dass wir in Eine gewöhnliche Geschichte in jeglicher Hinsicht wie in einem Spiegel vor allem uns selbst sehen, unabhängig davon, in welchem Land wir leben. Aber natürlich findet sich im Roman auch vieles, was uns den „Kontinent“ Russland mit seinen Besonderheiten näherbringt. Für das Verständnis der Mechanismen aber, die bis in das heutige Russland fortwirken, eignet sich meines Erachtens besonders gut die Lektüre der Aufzeichnungen eines Jägers von Iwan Turgenjew, die zum besseren Verständnis des uns auch heute noch oft rätselhaft erscheinenden Landes beitragen kann. Hier werden Sitten und Gebräuche beschrieben, Willkür und Unterordnung, Fatalismus, Aberglaube, überhaupt Glaubensvorstellungen, Gewohnheiten, kurz, das kulturelle, soziale und politische Leben der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Widerhall, insbesondere was Verhalten, Mimikry, Opportunismus betrifft, bis in unsere Tage zu spüren ist.

Wir haben den Eindruck, Iwan Gontscharow ist fast Ihr Lieblingsautor. Stimmt das?
Ja, das stimmt unbedingt. Was die russische Literatur betrifft, so kann man das „fast“ getrost streichen … Er sei ein „unverbesserlicher Romantiker und Idealist“, schrieb Iwan Gontscharow einmal in einem seiner Briefe. Dies ist es wohl, was mich besonders mit ihm verbindet. Auch die in seinen Werken wie in den wunderbaren Briefen (kleinen Kunstwerken, in denen er später, als er resigniert keine Romane mehr schrieb, seine Sicht auf das Leben, seine Beobachtungen und Diagnosen zu Papier brachte) so häufig anzutreffende Ironie mag ich sehr, vor allem die Selbstironie, die ja auch immer Schutz bietet. Aus diesen Gründen freue ich mich sehr, dass ich bisher zwei seiner Romane übersetzen konnte und auch die Möglichkeit hatte, zwei Briefbände zusammenzustellen. Wenn es mir gelänge, auch den dritten, sehr umfangreichen Roman des von Gontscharow als eine Art Trilogie angelegten Zyklus neu zu übersetzen, wäre ich sehr glücklich.

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