5 Fragen an ... Thomas Steinfeld

5 Fragen an ... Thomas Steinfeld

Lieber Thomas Steinfeld, was soll man lesen, wenn man noch nie etwas von Karl Marx gelesen hat?
Wenn das Interesse ernst ist, führt kein Weg an Das Kapital vorbei. Das Manifest der Kommunistischen Partei ist ein kleines Pamphlet, das Karl Marx noch ganz am Anfang seiner theoretischen Bemühungen zeigt. Mit der Lektüre von Friedrich Engels’ Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, einer Schrift, die für den real existierenden Sozialismus wichtig war, handelt man sich das Problem ein, dass Engels hier leichthin über etliche Widersprüche hinweggeht, die Marx deutlich vor Augen standen. Für Leser mit philosophischen Interessen mögen die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie zugänglicher sein als Das Kapital. Ansonsten aber gilt: Es gibt keine Abkürzung und keine Ermäßigung, genauso wenig, wie es bei Kant oder Hegel eine Lektüre zu erleichterten Bedingungen gibt.

Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hat wenig mit dem Kapitalismus der heutigen Zeit zu tun. Warum trotzdem Marx lesen?
Stimmt das? Es mag so aussehen, als hätte der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts wenig mit dem Kapitalismus der heutigen Zeit zu tun, weil viele Menschen in den industrialisierten Ländern des Westens, Japans und zunehmend auch Chinas einen halbwegs wohlhabenden Eindruck machen. Und es stimmt: Marx kannte zwar die Wertschöpfung aus dem Nichts, aber von den Fortschritten der Finanzwirtschaft oder der Produktion mit elektronischen Maschinen konnte er nichts wissen. Dennoch ist es so, dass die zentralen Kategorien seiner Theorie nach wie vor Bestand haben: Arbeit, Mehrwert, Kapital, Klasse, Eigentum, Produktionsmittel, Profit, sogar die Tendenz zur fallenden Profitrate. Ob er diese Kategorien im Einzelfall wie in ihrer systematischen Folge richtig gefasst hat, darüber kann man sich streiten. Dass diese Kategorien zentral sind, steht außer Frage.

Was hatte Karl Marx den heutigen Theoretikern des Kapitals voraus?
Den Willen, der Ökonomie auf den Grund zu gehen, mit allen theoretischen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen Wir leben in Zeiten, in denen der Kapitalismus als nicht nur selbstverständlich gegebene, sondern gleichsam natürlich notwendige Gesellschaftsform behandelt wird und das Geld als natürliche Eigenschaft von allem und jedem. Geld und Kapital sind etwas Gedachtes, gewaltsam durchgesetzte Abstraktionen. Sie sind angewandte Metaphysik. Und weil alle Menschen daran glauben, bis in den Kern ihrer jeweiligen Existenz, leben wir in Verhältnissen, die im Hinblick auf Frömmigkeit einer Abstraktion gegenüber dem christlichen Mittelalter nicht nachstehen. Von diesem Glauben nicht nur eine Vorstellung zu geben, sondern den Glauben in den Elementen seines Funktionierens zu analysieren – darin besteht Karl Marx’ eigentliche Leistung, und dahinter steht alles zurück, was an dieser Theorie unvollkommen und sogar falsch erscheint.

Steht dem Kapitalismus der Untergang bevor? Oder treibt er die Gesellschaft in den Untergang?
Der Kapitalismus ist ein zähes Wesen. Falls er denn unterginge, wäre er in der Lage, noch aus seinem eigenen Untergang ein Geschäft zu machen. Ich glaube nicht, dass es einen Sinn hat, das Ende des Kapitalismus anzukündigen oder gar von einer Welt jenseits des Kapitalismus zu träumen. Unbedingt notwendig dagegen ist es, sich ein Bewusstsein der eigenen Lage zu verschaffen. Wenn man weiß, warum die Welt so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist, stellt sich die Frage, ob man sie denn auch so haben will, wie sie beschaffen ist, auf einer völlig anderen Grundlage.

Gibt es von Karl Marx eine bestimmte Sentenz, die Ihnen besonders gut gefällt?
Der Satz ist berühmt, auch wenn er nur von Engels kolportiert wurde und an einer sehr entlegenen Stelle steht: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.“ Der Satz leuchtet mir ein, weil es nicht um ein Programm und nicht um eine Gefolgschaft geht, sondern darum, sich selbst Gedanken zu machen. Marx machte mit diesem Satz Ernst, auch sich selbst gegenüber.

Newsletter
Newsletter