5 Fragen an ... Susan Neiman

5 Fragen an ... Susan Neiman

Liebe Susan Neiman, der Titel Ihres Buches Von den Deutschen Lernen ist eine bewusste Provokation und beinhaltet zugleich ein Credo: Wir Menschen sollten unabhängig von allen nationalen Besonderheiten und historischen Verstrickungen voneinander lernen. In den USA ist Ihr Buch bereits erschienen. Wie hat man dort auf den Vorschlag reagiert, ausgerechnet von den Deutschen in puncto Vergangenheitsaufarbeitung zu lernen und welche Reaktion erwarten Sie sich vom deutschen Publikum?
Als ich 2016 anfing, für das Buch zu recherchieren, waren die Reaktionen meist stark abweisend. Da ‚Nazi‘ im Ausland nichts als das absolute Böse bedeutet, waren sehr wenig Amerikaner bereit, ihre Geschichte mit der deutschen Geschichte zu vergleichen. Als ich im Herbst 2019 das Buch auf eine langer Lesereise vorstellte, waren die Reaktionen völlig anders. Nach drei Jahren Trump war vielen Amerikanern klar, dass Nazis nicht nur ein deutsches Problem sind. Wer das übertrieben findet, hat offenbar keine Nachrichten gesehen. Trump hat bewaffnete Nazis in Fackelzügen „sehr feine Leute“ genannt; auf vielfältigste Weise hat er bewiesen, dass er nichts von einem Rechtsstaat hält. Vor allem sein offener Rassismus hat viele Amerikaner zur der Erkenntnis gebracht, dass wir eine Vergangenheitsaufarbeitung brauchen. Auch wenn es auf Englisch keinen Begriff dafür gibt, wurde in den letzten drei Jahren klar, dass die Abwesenheit einer Auseinandersetzung mit den Verbrechen unserer Geschichte den Rassismus nur befördert.
Deutsche Freunde und Bekannte haben entweder gelacht oder gelegentlich aufgeschrien, als sie von meinem Buchprojekt erfahren haben. Ich verstehe das schon: Es gehört zum guten Ton, dass Deutsche darauf bestehen, es gäbe nichts, was von den Deutschen gelernt werden könnte. Tatsächlich wäre es unanständig, sich mit einer gelungenen Aufarbeitung der schwersten Verbrechen zu brüsten. Und es stimmt: Diese Aufarbeitung darf man nicht als reine Erfolgsgeschichte bewerten. Sie war viel zu langsam, viel zu problematisch, und sie ist immer noch nicht vollständig geleistet. Beispielsweise gibt es überhaupt keine gemeinsame Erinnerungskultur im Osten und Westen, was eine geistige Wiedervereinigung erschwert. Nun liegt das Buch da, es kann auf Deutsch gelesen werden. Ich hoffe, dass das deutsche Publikum, statt zu lachen oder zu aufzuschreien, darüber diskutiert.

Ihr Buch ist eine Aufforderung zum Universalismus. Sie brechen bewusst mit dem Tabu, die nationalsozialistischen Verbrechen mit anderen zu vergleichen. Dabei geht es Ihnen in erster Linie darum, die Aufarbeitung dieser Verbrechen gegenüberzustellen. Wie verhält sich diese Aufforderung zu den gegenwärtigen Diskussionen und Vorwürfen eines überall herrschenden Relativismus?
Interessanterweise ist dieses sogenannte Tabu gar kein Tabu mehr, vor allem wenn es um die Verbrechen des Staatssozialismus geht. Formeln wie „die zwei deutschen Diktaturen“ setzen Kommunismus und Nazismus gleich, selbst bei Menschen, die solche Redewendungen mit den Floskeln „Ich will das ja nicht gleichsetzten, aber...“ begleiten und so bereits den Vergleich vollziehen. Diesen Vergleich finde ich höchstproblematisch. Damit folge ich nur der Linie, die während des inzwischen vergessenen Historikerstreits zum Konsens wurde.
Darüber hinaus halte ich mich an die Maxime des Kritikers Tzvetan Todorov: Die Deutschen sollen über die Singularität des Holocausts reden, die Juden über dessen Universalität. Das ist kein Relativismus, sondern die Anerkennung, dass Wörter nicht nur Wahrheitsaussagen, sondern Handlungen sind. Deutsche, die die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen betonen, übernehmen die Verantwortung dafür. Deutsche, die dessen Universalität betonen, suchen Entlastung. Als Jüdin und Amerikanerin fände ich es unanständig, nur auf das Leid der eigenen Völker zu schauen. Moralisch geht es darum, dass wir alle Verantwortung übernehmen.

Die Gegenüberstellung von Orten ist für Ihre vergleichende Untersuchung sehr wichtig. Neben dem Süden der USA spielen dabei vor allem Ost- und Westdeutschland eine entscheidende Rolle. Wie wichtig ist es für Sie gewesen, vor Ort zu sein und mit den dort lebenden Menschen zu sprechen?
Wirkliches Geschichtsverständnis kann man nur aus Büchern nicht erwerben. Mir war die alltägliche Vergangenheitsaufarbeitung am wichtigsten: Wie reden Menschen mit ihren Kindern oder Eltern, wie gehen sie mit Denkmälern um, welche Tabus behalten sie, welche Musik hören sie bzw. lehnen sie ab, und vieles mehr. Gleichzeitig war es mir auch wichtig, bestimmte Orte zu besuchen, ob die Gedenkstätte Buchenwald und Dachau oder die viel kleineren Gedenkstätten der Sklaverei oder des Lynchmords in den USA. So habe ich mich entschieden, ein halbes Jahr im tiefen Süden der USA zu verbringen – nicht weil ich der Meinung bin, Rassismus gäbe es nur im Süden, sondern weil ich weiß, dort wird die Geschichte am intensivsten erlebt. Sie wird dort mythologisiert und verleugnet, aber man kann sie dort niemals vergessen, und das Geschichtsverständnis des Südens hat die ganze Nation geprägt. Dort konnte ich z.B. Einblick in die Verherrlichung der Plantagenkultur der Sklavenhalter nehmen, und meinen Stützpunkt kurz danach für eine Weile in ein Dorf am Mississippi Delta verlegen, das von der Geschichte eines Lynchmords lebt. Die Interviews, die ich sowohl in Deutschland wie auch in den USA führte, sind ein Herzstück des Buches. Sie laden zum Mit- und Weiterdenken ein.

Was hat Sie in den frühen 80er Jahren dazu bewogen, ausgerechnet nach Berlin zu ziehen und was bedeutet es für Sie, im Jahr 2020 als amerikanische Jüdin in dieser Stadt zu leben?
Offiziell war ich dabei, eine Doktorarbeit über Kants Vernunftbegriff zu schreiben. Ich wollte mein Deutsch verbessern und ein wenig von der gegenwärtigen deutschen Philosophie kennenlernen. So fiel es nicht schwer, ein Fulbright Stipendium zu bekommen. Darüber hinaus wurde mir die Harvard University etwas eng; ich hatte acht Jahre dort verbracht, und wollte die europäische intellektuelle Welt kennenlernen. Mir war das damals nicht ganz bewusst, aber ich wollte auch ein Tabu brechen. Damals wollten sehr wenig Amerikaner – und noch weniger Juden – nach Deutschland kommen. Als ich in Berlin ankam, habe ich allerdings relativ wenig Zeit an der Universität verbracht. Mich faszinierte die Stadt Berlin und ihre Geschichte; schon damals vor allem, wie die Berliner mit ihrer Geschichte umgingen.
Inzwischen lebe ich länger in Berlin, als an irgendeinem anderen Ort. Ich kann nicht sagen, Berlin ist mein Zuhause, aber die Stadt ist das, was eine wurzellose kosmopolitische Intellektuelle als Zuhause gebrauchen kann. (Ich benutze den Ausdruck ironisch, aber er trifft wohl auf mich zu.) Berlin selbst ist viel kosmopolitischer geworden, als es 1982 der Fall gewesen ist; so kann ich mich hier viel wohler fühlen als damals. Ich sehe die Fortschritte in dem Umgang mit Ausländern, mit dem Jüdischen. Und leider muss ich sagen, dass Deutschland derzeit viel demokratischer, viel sozialer, ist als mein Herkunftsland. Das war schon zu den Zeiten von George W. Bush der Fall, inzwischen sind die Unterschiede zwischen den Ländern enorm. Deshalb habe ich nach der Wahl von Trump entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, und bin inzwischen Bürgerin beider Staaten.

Als Philosophin beschäftigen Sie sich schon lange mit dem Bösen, in der Philosophie und in der Geschichte. Sie schreiben, dass das Böse oft mehr Aufmerksamkeit bekommt als das Gute. Inwiefern können und sollten wir es sichtbarer machen?
Unsere jetzige Kultur leidet enorm unter der Angst vor Peinlichkeit, vor allem davor, als Naivling oder Schlimmeres ausgelacht zu werden, wenn man sich nicht ironisch bzw. zynisch bzw. relativistisch ausdruckt – denken Sie nur an dem Ausdruck „Gutmensch“. Geschichten, die glücklich enden, sind suspekt; Helden sind verpönt. Die Kultur steht auf Realismus, wo der Einwand „Sei doch realistisch“ in Wirklichkeit heißt: Schraub deine Erwartungen herunter, die Welt wird dich enttäuschen. Man traut sich nicht, über Ideale zu reden. In meinem Buch Moralische Klarheit: Leitfäden für erwachsene Idealisten habe ich u.a. darüber geschrieben, wie solche Haltungen eine Vielfalt von falschen metaphysischen Voraussetzungen enthalten.
Ideale sind aber nicht nur Sonntagsreden, sondern treibende Kräfte der Geschichte. Wir brauchen auch Helden, weil sie zeigen, dass bestimmte Werte, die wir schätzen, tatsächlich von Männern und Frauen gelebt wurden – ob in der Geschichte oder in der Kunst. Ohne Beispiele dafür werden wir resigniert oder zynisch.

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