5 Fragen an ... Stefano Massini

5 Fragen an ... Stefano Massini

Lieber Stefano Massini, in Ihrem Buch der fehlenden Wörter erzählen Sie wahre und verblüffende Geschichten zu Gefühlslagen, die jeder kennt, für die es aber keinen Namen gibt. Diese Namen schöpfen Sie selbst und machen eine Art Wörterbuch daraus. Wie ist die Idee entstanden?
Diese Idee trage ich seit sehr langer Zeit mit mir herum, ich würde sogar sagen, dass das Nachdenken über Wörter für mich eine Art Obsession ist. Wörter sind etwas Lebendiges, ein Gut, das nicht nur denjenigen, die sie für ihren Beruf verwenden, oder Intellektuellen zusteht, sondern etwas, das für alle da ist und das Leben von allen verbessert. Denn niemand spricht nur für sich selbst, die Worte schlagen eine Brücke zwischen uns und den anderen über den Fluss der Dinge hinweg. Also ging es darum, den wunderbaren Mechanismus wieder in Gang zu setzen, der seit Menschengedenken unsere Wörterbücher bereichert: Wenn ein Wort fehlte, würde ich es erschaffen. Oder wenigstens vorschlagen.

Die fehlenden von ihnen vorgeschlagenen Wörter stehen mit den verschiedensten historischen Persönlichkeiten in Verbindung. Mit welcher Figur in ihrem Buch würden Sie a) befreundet sei; b) einen Film drehen; c) einen philosophischen Dialog führen
Kein Zweifel, ich würde am liebsten mit Rosa Parks befreundet sein, die mutige schwarze Frau, die sich im Alabama der 50er Jahren weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Dank ihrer Widerstandskraft hat sie die Geschichte verändert. Was den Film betrifft, wäre für mich Leonardo da Vinci eine sehr schöne Figur, denn noch niemand hat seine Leidenschaft für das Kochen wirklich erzählt, und es würde sich sehr lohnen, diesen Aspekt zu vertiefen. Schließlich die Frage zum philosophischen Dialog: Ein längeres Gespräch mit den Brüdern Montgolfier würde ich sehr gerne führen. Ihre Geschichte über den Jungfernflug des Heißluftballons, bei der sie nicht selbst an Bord sein wollten, sondern stattdessen Tiere einsteigen ließen, hat mich seit eh und je sehr beeindruckt. Eine Geschichte, die in unserer Zeit sehr lehrreich ist. Heutzutage sucht man ständig, koste es was es wolle, den Erfolg, während sie aus Angst innehalten konnten. Das ist eine Lehre, die ich gerne mit ihnen genauer untersuchen würde.

Die Geschichten, die Sie erzählen sind alle wahr und ziemlich verblüffend. Haben sie detaillierte Recherchen gemacht – wie im Fall der kulinarischen Leidenschaft Leonardo da Vincis, der die Spaghetti erfunden hat – oder haben sich die Geschichten durch Ihre Kenntnisse auf natürliche Weise ergeben?
Ich war schon immer ein sehr neugieriger Mensch und ich habe gerne von Dingen gelesen und sie dann auch regelrecht studiert, die sich fernab von meiner üblichen Tätigkeit im Theater und in der Literatur befanden. Ich freue mich, wenn ich etwas entdecke, das ich nicht kannte, insbesondere in Bereichen wie die Wirtschaft, die Geschichte der Erfindungen oder die Angewandte Wissenschaft. Dementsprechend kommen im Buch Figuren wie Robert Hooke vor, der als erster den Begriff der Zelle prägte, oder László Biró, den Erfinder des Kugelschreibers. Die Quelle der Geschichten ist also pure Neugierde.

Gibt es eine Geschichte, die Sie immer noch verfolgt, die sie vielleicht in einem späteren Werk noch einmal behandeln möchten?
Das ist die Geschichte von Henry Louis Grin, die ich unter dem Buchstaben „L“ erzähle. Grin benutzte den Decknamen Liar und die sogenannte Liaritis bezeichnet ein besessenes Bedürfnis, von einer wunderbaren Lüge, die hundertmal bezaubernder ist als die dürftige triste Realität, getäuscht, hereingelegt, sogar betrogen zu werden. Die Geschichte dieses Menschen, der alle belogen hat und dann entlarvt wurde, der aber gezwungen wurde, seine Lügen weiterzuerzählen, wenngleich in anderer Form, finde ich gerade in unserer Zeit von Fake-News und permanenter Verfälschung der Wirklichkeit sehr bedeutsam.

Wenn Sie Ihr Buch der fehlenden Wörter erweitern könnten, um dem besonderen Moment, den wir gerade leben, Rechnung zu tragen, welches Wort würden Sie erfinden?
Ein Wort, das ich angesichts der unvorstellbaren Dinge, die in den letzten Monaten passiert sind, hinzufügen würde, ist der „Wahnsinnismus“, ein Wort, dass es nicht gibt, und das sich aus dem Ausdruck „Wahnsinn!“, im Sinne eines Staunens über das Unvorstellbare bildet. Es gab bis vor kurzem Dinge, die wir uns nicht vorstellen konnten, wenn nicht in Filmen. Dass die Welt stillstehen konnte, dass man das Arbeiten verbieten oder dass man New York dicht machen konnte. Dass dies alles so real werden konnte, dass wir alle mit Mundschutzmasken herumlaufen mussten und die Gefährdung gespürt haben, das, was auch auf psychologischer Eben passiert ist, dies alles dachten wir, wäre ein purer, undenkbarer Wahnsinn, aber er ist jetzt Realität. Der „Wahnsinnismus“ ist also das, was wir in jedem Moment empfinden, wenn sich das Undenkbare konkret ereignet.

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