5 Fragen an ... Sandro Veronesi

5 Fragen an ... Sandro Veronesi

Lieber Sandro Veronesi, Der Kolibri ist ein Familienroman, der den Zeitraum von 1960 bis 2030 umfasst. Eine Epoche, in der Italien zum Sehnsuchtsland der ganzen Welt wurde, und in der es ebenso zu gravierenden politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen kam – just to name Andreotti, Craxi, Berlusconi, Salvini. Das Wohl der wohlhabenden Familie Carrera scheint sich ebenfalls zu neigen. Beschreiben Sie den Verfall einer Familie?
Natürlich. Neben dem Niedergang der Familie habe ich versucht, den Verfall des „italienischen Stils“ zu beschreiben, der einzigen Periode des Reichtums in der Geschichte Italiens, des sogenannten Wirtschaftsbooms, der nur drei Jahrzehnte, bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts dauerte.

Im Zentrum steht der Augenarzt Marco, der Kolibri – zuerst ein talentierter Skifahrer, ein guter Tennisspieler, früh ein Gambler in den Casinos, dann verliebt, später unglücklich verheiratet. Kann man sagen, dass er sich verändert, indem er sich nicht verändert?
Ja, das stimmt. In der Ära der Veränderung lehnt Marco Carrera genau das ab, nämlich sich zu verändern, und er hält fest an den Talenten und Einstellungen, die sein Leben von Beginn an prägten.

Sie variieren die Formen des Erzählens. Brief, Tagebuch, Erinnerung, Dialog, sogar Bestandslisten wechseln einander ab, auch wird die Chronologie immer wieder aufgebrochen. Wollen Sie damit die Aufmerksamkeit der Leser auf Details lenken?
Ich möchte die Leser in einer anderen Dimension einfangen, in der Zeit nicht mehr der Tyrann ist und sie Marco Carrera durch alle tragischen Ereignisse und Desaster begleiten, die sein Leben ausfüllen. Ich will Leser, die wie Marco Carrera die Fähigkeit der Resilienz erreichen können.

Der Roman war in Italien enorm erfolgreich, er wird gerade in alle großen Sprachen übersetzt, demnächst beginnen in Rom die Dreharbeiten für die Kinoverfilmung. Wie haben Sie die Zeit nach der Zuerkennung des Premio Strega erlebt? Vom Isolierschemel des Schreibens ins Rampenlicht, in die coronabedingte Abgeschiedenheit und jetzt hoffentlich wieder auf die internationale Bühne?
Das Jahr des großen Erfolgs von Der Kolibri war 2020. Das bedeutet, es handelt sich um einen Erfolg, der mitten in einer globalen, kollektiven Tragödie stattfand. Ich war wirklich schockiert, man kann sagen, ich war sogar doppelt schockiert. Es war eine ziemlich eigenartige und unvorhersehbare Erfahrung.

Die Stimmung des Romans wird öfter durch Musik wiedergegeben, vor allem durch Popmusik – Crosby, Stills, Nash & Young, Eagles, Fabrizio dé Andre… Was bedeuten diese Gruppen für Sie und Ihre Arbeit?
Es handelt sich um die Ära der Veränderung; und viele dieser Veränderungen kamen von der Musik her. Marco Carrera mitten hinein in diese Zeit zu setzen, mit seinem kolibriartigen Beharren, war für mich sowohl eine Herausforderung als auch ein Vergnügen. Die großen, die revolutionären Künstler, Musiker, Sänger und Gruppen musste ich in meinem Roman erwähnen, weil sie nicht nur der Soundtrack der Geschichte sind, sondern wirkliche Charaktere, Teil unseres täglichen Lebens.

Interview von Herbert Ohrlinger

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