5 Fragen an ... Pascal Mercier

5 Fragen an ... Pascal Mercier

Lieber Pascal Mercier, wie haben sich die großen Themen des Buches in Ihnen entwickelt?
Ich habe es lange nicht bemerkt, aber von all dem, was mir als Kind begegnete, fand ich nichts so faszinierend wie Wörter, Wörter und immer noch mehr Wörter. Es war aufregend zu entdecken, dass es ganz verschiedene Sprachen gab, die man in ganz unterschiedlichen Alphabeten schrieb. Ich hörte Übersetzern und Dolmetschern zu und dachte: Das ist das Interessanteste, was man als Beruf haben kann. Wie kann einer etwas Anderes tun wollen? Und je fremdländischer und exotischer die Texte waren, die ich zu sehen und zu hören bekam, desto mehr brannte ich darauf, sie zu lernen. Das ist die Leidenschaft, die ich in der Figur von Simon Leyland einzufangen versuche. Das Drama seines Lebens ist entsprechend mit Sprache verknüpft: Es sieht so aus, als verlöre er die Sprache. Er verkauft seinen Verlag und gibt seinem Leben eine ganz neue Wendung. Darin liegt, wie sich dann zeigt, die Chance herauszufinden, wie er klingt, wenn er nach all dem Fremden nun die ganz eigene Sprache spricht, die Sprache seiner ganz eigenen Erfahrungen und Gedanken. Wenn er also vom Übersetzer zum Schriftsteller wird.

Wieviel Recherche steckt hinter dem Buch?
Ich habe vieles recherchieren müssen. Natürlich all die fremdsprachlichen Wörter und ausgefallenen Wendungen. Aber es begann ja schon viel früher: Wie heißen die Leute an bestimmten Orten? Was sind etwa typische Namen in Triest? Und die Recherchen beschränkten sich bei weitem nicht auf sprachliche Dinge im engeren Sinne. Das Buch handelt unter anderem von einem möglichen Sprachverlust. Da gab es viel nachzulesen, auch über die neurologischen Hintergründe. Ich habe viele Berichte von Leuten gelesen, die auf unterschiedliche Weise die Sprache verloren haben. Und auch, was Diagnosefehler betrifft, habe ich mich kundig gemacht. Erinnerung, Vergessen und persönliche Identität spielen in der Geschichte eine große Rolle, und auch da gab es viel nachzulesen. Aber auch noch ganz andere Dinge spielten eine Rolle: Ich habe einen Tag im Gefängnis von Triest verbracht, um eine meiner Figuren möglichst echt darstellen zu können. Und ich bin sogar an die vereiste Bucht von Riga gefahren, obwohl es sich nur um eine winzige Episode handelt, über die jemand schreibt. Nur ein kleiner Teil von dem, was einem Roman an Recherchen vorausgeht und was der Autor dabei lernt, zeigt sich am Ende im Text. Und all das Verborgene ist nicht weniger aufregend und kostbar als das Sichtbare.

Was bedeutet Ihnen London, was Triest?
London, Victoria Station: Das war nach den grauen Mauern des Berner Gymnasiums der Eintritt in die Welt. Ich nahm eines der schwarzen Taxis, die ich bis dahin nur aus dem Kino kannte – ich nahm es tatsächlich! Und in den folgenden Wochen und Monaten tat ich lauter Dinge, die ich tatsächlich tat. Ich erlief mir die Stadt, saß in monumentalen Kinosälen, wo man rauchen durfte, ging ins Britische Museum und durch Soho. Sieben Stunden Sprachschule pro Tag, bis ich auf Englisch träumte. Es war der Beginn des eigenen Lebens, ich spürte es pulsieren, wo immer ich war. Und eigentlich hat sich daran bis heute nichts geändert. Wenn ich in Heathrow in die U-Bahn steige, spüre ich diesen Sog. London – das ist der Ort, an dem all das begann, was dazu führte, dass ich schließlich über Simon Leyland schreiben konnte. Und dass ich überhaupt schreiben konnte.
Triest – das ist ganz anders. Es ist die Stadt, die ich gezielt für diesen Roman ausgesucht und mir dann reisend angeeignet habe. Weil es diese vielsprachige und kulturell vielfältige Stadt am Mittelmeer ist – an dem Meer also, das mir das liebste ist. Es ist aufregend, durch eine Stadt im Bewusstsein zu gehen: Das ist die Stadt deines Romans. Natürlich ist, was man sieht, real, aber es ist stets auch dabei, sich ins Imaginäre zu verwandeln. Wo könnte der Verlag stehen, der Leyland und seiner Frau Livia gehört hatte, bevor das Unglück alles veränderte? Wo stelle ich die Trattoria hin, wo sie sich alle treffen? Wo wohnt Leyland? Was sieht er, wenn er aus dem Fenster blickt? Heute gehe ich gar nicht mehr so gerne durch das wirkliche Triest, die reale Stadt stört den Ort der Phantasie.

Die Sprachen des Mittelmeers – welche sind Ihnen näher, welche ferner?*
Am nächsten sind mir als Schweizer das Französische und Italienische. Viel Zeit habe ich dann mit dem Spanischen und Katalanischen verbracht, auch mit dem Portugiesischen, obwohl das ja nicht mehr Mittelmeer ist. Ich hatte in der Schule Altgriechisch, und seit einiger Zeit bin ich mit dem Neugriechischen unterwegs. Ich konnte einmal ziemlich gut Althebräisch, habe aber den Schritt zum modernen Hebräisch nicht geschafft. Und was ich wirklich bedaure: kein Arabisch zu können. Überhaupt: Ich würde gerne viele Sprachen des Orients können. Um ein Haar wäre ich nach dem Abitur Sprachlehrer in Isfahan geworden. Es gibt einfach so wunderbar viele Sprachen! Und man hat so wenig Zeit!

Wieviel Erfahrung, wieviel Phantasie?
Schreiben, wie ich es erlebe, entsteht aus Schlüsselerfahrungen: Erfahrungen, die das Leben innerlich organisieren, ohne dass man es recht bemerkt. Man sieht, hört oder liest etwas, und darum herum gruppiert sich vieles, was man später fühlt und denkt. Die Einbildungskraft ist die Fähigkeit, solche Erfahrungen auszuspinnen und zu reichen Geschichten zu verdichten. Es liegt eine unerhörte Freiheit und ein unerhörtes Glück in dieser Tätigkeit. Man hat beim Schreiben das Gefühl: Jetzt bin ich ganz bei mir selbst. Damit geht eine besonders intensive Erfahrung von Zeit einher, von der auch Leyland in seinen vielen Briefen an Livia spricht. Die Phantasie, wenn man sie ihre Wege gehen lässt, schafft ihre eigene Art von Gegenwart: die Gegenwart der Poesie. In dieser poetischen Gegenwart kommt all das zur Geltung, worum es einem wirklich geht. Man wünschte, es möchte immer so weitergehen, und ist unglücklich, dass die Geschichte aus ihrer Logik heraus ihr Ende erzwingt.

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