5 Fragen an ... Orhan Pamuk

5 Fragen an ... Orhan Pamuk

Lieber Orhan Pamuk, Sie haben lange Zeit an den Nächten der Pest geschrieben, schon Jahre vor der Coronapandemie damit begonnen. Wann kamen Sie zu der Idee?
Ich denke seit vierzig Jahren darüber nach, ein Buch über eine historische Seuche zu schreiben. Es gibt eine Figur in meinem Roman Das stille Haus, die eine vergangene Plage recherchiert oder auch Szenen über die Pest in Istanbul des 17. Jahrhunderts in meiner Erzählung Die weiße Festung. Vor vierzig Jahren haben mich an den Pandemien Tod, Metaphysik, Religion und das Mystische interessiert. Später dann überwogen Überlegungen zu den politischen Aspekten der Quarantäneverhängungen. Die aktuelle Coronapandemie ist im März 2020 ausgebrochen, zu der Zeit habe ich meinen Roman gerade fertiggestellt.

Welche Bücher haben Sie am meisten beim Schreiben an den Nächten der Pest beeinflusst?
Ich habe Berichte von britischen Ärzten gelesen, die in Indien und China während der dritten Pestpandemie um 1900 gearbeitet haben. Sie wurden in umfangreichen Sammelbänden veröffentlicht und sind sehr nützlich, wenn man menschliche Verhaltensmuster studieren möchte. Außerdem hat mich Joseph Conrads Roman Nostromo beschäftigt, der genau wie mein Buch im frühen 20. Jahrhundert angesiedelt ist, und Daniel Dafoes Die Pest zu London von 1722, was im Vergleich das beste literarische Buch über die menschliche Psyche und Epidemien ist, aber ein eher bescheidener Roman.

Die Insel Minger ist eine Erfindung von Ihnen. Sie beschreiben sie als eine multikulturelle Gesellschaft aus Türken und Griechen. Hatten Sie einen speziellen realhistorischen Ort vor Augen, wo die Verhältnisse ähnlich waren?Alle ägäischen Inseln waren durch das Aufeinandertreffen von Griechen und Türken geprägt. Die meiste Zeit über waren etwa 80% der Bevölkerung griechisch und 20% muslimisch, aber ich habe meine fiktive Insel etwas davon abweichen lassen, um die Themen, die mir wichtig sind, besser anbringen zu können. Geografisch und anhand seiner Flora kommt Minger der Insel Kreta aber ziemlich nahe.

Ihre Geschichte ist aus der Perspektive einer weiblichen Historikerin geschrieben. Wie wichtig war Ihnen historische Akkuratesse, besonders in Bezug auf die beschriebenen Hygienemaßnahmen?
Sehr wichtig. Ich habe viel Zeit darauf verwandt, ein detailliertes Bild des untergehenden Osmanischen Reichs heraufzubeschwören, seiner versagenden Bürokratie, seiner Paschas und Doktoren. Ich habe mich von den Erinnerungsberichten muslimischer Ärzte inspirieren lassen, die versucht hatten, die Epidemie in den letzten Tagen des Osmanischen Reichs zu stoppen, konfrontiert mit den Vorurteilen einer ungebildeten Bevölkerung. Ich habe wirklich viel recherchiert, was mein Buch eventuell etwas länger gemacht hat als eine übliche Detektivgeschichte. Aber es hat mir einfach wahnsinnig viel Spaß gemacht, über osmanische Postämter, Briefmarken, Apotheken, Arzneimittel und Gifte zu schreiben.

Welche Leserreaktionen haben Sie bisher am meisten überrascht?
Am meisten überrascht hat mich die Popularität des Romans, denn ich hätte nicht gedacht, dass Leser sich damit während einer tatsächlichen Pandemie auseinandersetzen wollen. Vielleicht liegt das am Humor des Textes, der dafür sorgt, dass die Geschichte leichtfüßig und gut lesbar bleibt. Und dass meine türkischen Leserinnen und Leser den Roman erneut deutlich politischer sehen als ich erwartet hätte.

Personen

Newsletter
Newsletter