5 Fragen an ... Neal Shusterman

5 Fragen an ... Neal Shusterman

Herr Shusterman, wen möchten Sie mit ihrem Roman Kompass ohne Norden erreichen?
Jeden. Erwachsene, Jugendliche, Menschen, die mit einer psychischen Krankheit kämpfen und Menschen, die das nicht tun. Ich möchte, dass Betroffene, egal an welcher seelischen Krankheit sie leiden, das Buch lesen und verstehen, dass sie nicht allein sind und dass es Hoffnung gibt. Ich möchte, dass andere verstehen, wie es sich anfühlt, wenn man so tief im eigenen Kopf verloren ist, als wäre man auf dem Grund des Ozeans – und hoffentlich werden die Leser hinterher mehr Verständnis und Mitgefühl für diejenigen haben, die an psychischen Krankheiten leiden.

Wie kamen Sie auf die Idee zu dem Buch?
Als mein Sohn Brendan 16 Jahre alt war, wurde bei ihm eine schizoaffektive Störung diagnostiziert. Das ist eine Kombination aus Schizophrenie und biopolarer Störung. Das war ein doppelt harter Schlag. Während eines psychotischen Schubs konnte er nicht mehr unterscheiden, was tatsächlich passierte und was sich nur in seinem Kopf abspielte. Er kam ins Krankenhaus, und als er am Tiefpunkt seiner Krankheit angelangt war, sagte er zu mir: „Dad, es fühlt sich an, als ob ich auf dem Grund des Ozeans aus voller Lunge schreie, und niemand kann mich hören.“ Als Autor bin ich immer auf der Suche nach bedeutsamen Geschichten – und in diesem Moment wusste ich, dass ich über dieses Gefühl schreiben musste. Als Brendan, ungefähr fünf Jahre später, anfing, aufzublühen und die Krankheit unter Kontrolle hatte, fragte ich ihn, ob ich eine Geschichte über einen Teenager schreiben dürfe, der etwas Ähnliches wie er selbst durchmacht. Jetzt ist Brendan 28 Jahre alt, lebt in Thailand und unterrichtet dort Englisch. Wenn man mit einer psychischen Krankheit klarkommen muss, gibt es viel Verzweiflung, aber auch sehr viel Hoffnung. Unsere Geschichte ist eine Geschichte über Hoffnung. Ich würde nicht sagen, dass sie ein Happy End hat, denn das wäre zu simpel. Das Leben geht weiter – es wird auch weiterhin Höhen und Tiefen geben –, aber jetzt gerade läuft es gut und hoffentlich bleibt es so!

Hat es einen Grund, dass die fantastische Erzählebene auf einem Boot spielt?
Das kam alles von Brendan – seine Faszination für die Tiefen des Ozeans als Kind, und was er gemalt hatte, als er tief in der Krankheit steckte. Seine Kunstwerke aus dieser Zeit sind in das Buch integriert, weil sie das gesamte fantastische Element der Geschichte inspiriert haben. Ich glaube, dass sie das Buch um eine sehr starke Dimension erweitern. Eines seiner Bilder nannte er Die Sterne haben recht, und ich sehe darin eine Gallionsfigur am Bug eines Schiffs, die zum Leben erwacht und sich in Richtung Freiheit emporhebt. Dieses Bild hat mich ursprünglich auf die Idee gebracht, die Geschichte auf einem Schiff spielen zu lassen –, und dieser Aspekt macht einen entscheidenden Teil der Geschichte aus.

Wie würden Sie Caden Bosch, den Protagonisten, beschreiben?
Caden ist schlau, witzig und freundlich. Er ist der Junge von nebenan. Er ist dein bester Freund. Er ist NICHT, was man sich unter einem psychisch kranken Jungen vorstellt, denn so viele unserer Auffassungen über psychische Krankheiten sind falsch. Caden ist jemand, den man kennt, und den man gern hat, und man ist geschockt, wenn man herausfindet, woran er leidet. Deshalb wünscht man sich, man könne selbst auf den Grund des Ozeans vordringen, und ihm dabei helfen, seinen Weg zurückzufinden.

Was ist Ihrer Meinung nach der wichtigste Satz in dem Buch?
Da suche ich mir lieber zwei Zitate aus. Sie kommen an unterschiedlichen Stellen im Buch vor, sind aber eng miteinander verbunden – und zwar absichtlich. Beim ersten Zitat handelt es sich um die letzten Zeilen des ersten Kapitels, kurz bevor wir „den Kapitän“ treffen, der sich als Personifizierung von Cadens Krankheit herausstellt.

Noch bevor es ein Schiff gab, war der Kapitän schon da. Diese Reise hat mit ihm begonnen, du vermutest, sie wird auch mit ihm enden, und alles dazwischen ist das pulvrige Mehl von Windmühlen, welche auch Riesen sein könnten, die Knochen zermahlen und Brot daraus machen. Tritt leise auf, sonst weckst du sie.

Im zweiten Zitat versucht Caden, seine Wahnvorstellungen zu beschreiben, und die Riesen, die in dem vorigen Zitat aufgetaucht sind, kommen hier wieder zurück …

Don Quijote – der berühmte Verrückte aus der Literatur – kämpfte gegen Windmühlen. Die Leute glauben, dass er Riesen sah, wenn er sie anschaute, aber wer selbst soweit war, kennt die Wahrheit. Er sah Windmühlen wie alle anderen auch – aber er glaubte, sie wären Riesen. Nichts macht mehr Angst als nie zu wissen, was du plötzlich glauben wirst.

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