5 Fragen an ... Mithu Sanyal

5 Fragen an ... Mithu Sanyal

Liebe Mithu Sanyal, Identitti erzählt von der Professorin Saraswati, die sich bei ihrer erfolgreichen Unikarriere als Person of Colour definiert hat – und plötzlich als weiß geoutet wird. Wie kamen Sie auf diese Geschichte?
2015 wurde die amerikanische Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal als Weiße geoutet. Der Fall ging damals durch alle Medien, vor allem durch alle sozialen Medien: Eine Weiße, die sich als Schwarze ausgab – das war so unfassbar, dass das Internet vor Entrüstung explodierte. Ich wollte damals unbedingt darüber schreiben – nicht über Dolezal, sondern über die vehemente Debatte, die mich in einer ganz merkwürdigen Form persönlich berührte –; und keinen kulturwissenschaftlichen Text, weil alle Sichtweisen so wahr waren und gleichzeitig so falsch. Nur ein Roman kann all diese sich widersprechenden Stimmen enthalten.
Und die Idee eines umgekehrten Passings ist einfach eine großartige Geschichte.

Das sind ernste und wichtige Themen, wie schreibt man über sie?
Je ernster ein Thema ist, desto wichtiger ist es die, darüber lachen zu können. Für mich vollzogen sich die eindrucksvollsten Auseinandersetzungen mit Rassismus in Comedy Serien, wie in Goodness Gracious me, der ersten britisch-indischen Comedy. Bis dahin dachten die Engländer ja noch, dass indische Menschen halt keine Witze machen könnten.
Comedians wie Meera Syal oder Shappi Khorsandi, die einen Cameo-Auftritt in meinem Roman hat, gaben mir eine Sprache, in der ich über meine Erfahrungen sprechen konnte – während vorher nur über Menschen wie mich gesprochen wurde. Sie gaben mir den Raum, auf Rassismus als ein merkwürdiges Phänomen zu schauen, und nicht als eine Struktur, die wahnsinnige Macht über mich hatte.
Außerdem misstraue ich Literatur, die nicht zumindest ein bißchen Humor und Selbstironie hat.

Hauptfigur ist eine Studierende Saraswatis im Studiengang Postcolonial Studies in Düsseldorf, die sechsundzwanzigjährige Nivedita. Warum diese Erzählfigur, was bewirkt ihr Blick auf Saraswatis Fall?
Nivedita ist zusammen mit ihrer Kommilitonin Oluchi am tiefsten von Saraswatis Enthüllung getroffen. Beide empfinden diese als persönlichen Verrat, reagieren aber sehr unterschiedlich darauf. Während Oluchi sich öffentlich gegen Saraswati wendet, geht Nivedita zu ihr und versucht, von ihr zu erfahren: Warum? Insofern ist Nivedita die Anwältin der Lesenden. Sie stellt die Fragen, die wir Saraswati stellen wollen. Sie sucht in Saraswatis Wohnung nach Hinweisen auf ihre Geschichte. Und bis zum Ende wissen wir, weiß Nivedita nicht, ob das, was sie schließlich über die Beweggründe ihrer Professorin herausfindet, wirklich „die Wahrheit“ ist.
Auf der anderen Seite ist Nivedita in ihrer besonderen Form von Saraswatis Betrug verletzt, weil sie die Erfahrungen gemacht hat, die sie nun einmal gemacht hat. Wir verarbeiten unsere Erfahrungen auf der Basis unserer persönlichen Geschichte. Deshalb erzählt das Buch in Rückblenden von Niveditas Leben, von ihrer komplexen und komplizierten Beziehung zu ihrer Cousine Priti, die den Vorteil hat, dass ihre beiden Eltern aus Indien kommen. Denn es ist Niveditas Lebensthema, dass sie als mixed race kid zwischen allen Stühlen sitzt und durch alle Kategorien fällt. In Saraswatis Seminar hat sie das erste Mal das Gefühl, richtig zu sein, so wie sie ist. Und dann ist plötzlich Saraswati nicht mehr die, für die Nivedita sie gehalten hat.

Durch den Roman fegt fortwährend der gewaltige Shitstorm gegen Saraswati, deren Skandal die verschiedensten Personen und Gruppen zu heftigen Meinungsbekundungen bringt. Zeigen solche Dynamiken nicht eine fürchterlich zerrissene Gesellschaft?
Die Journalistin Meredith Haaf sagt so schön: Wenn man keinen Streit möchte, muss man nur in Diktaturen gehen, da sind alle durchgehend einer Meinung. Der Shitstorm, der sich an Saraswatis Enthüllung entzündet, zeigt, wie tief die ihn auslösenden Fragen gehen: Wer bin ich? Wer darf ich sein? Wer hat das Recht, darüber zu bestimmen? Und wie wirken sich historische Unterdrückungsverhältnisse auf individuelle Entscheidungen aus?
Zugleich haben wir – individuell und als Gesellschaft – wenig Ahnung, wie man konstruktiv und wertschätzend streitet. Was passiert, nachdem wir auf einen Fehler hingewiesen haben? Was ist nötig, um zu verzeihen? Wie kann Versöhnung aussehen? Das alles sind wichtige Themen in meinem Buch. Denn es gibt immer ein Leben nach dem Shitstorm.

Es wäre zu einfach, zu fragen, was man beim Lesen wohl lernt, darum anders: Gibt es etwas, das Sie selbst gelernt haben beim jahrelangen Schreiben, das Sie anders sehen als vor den ersten Sätzen von Identitti?
Ich dachte ja, ich schreibe ein Buch über Rassismus. Stattdessen ist ein vordringliches Thema, was es bedeutet, mixed race zu sein, ein Konzept, das in Deutschland so unterbeleuchtet ist, dass wir noch nicht einmal ein eigenes Wort dafür haben, das nicht massiv rassistisch ist.
Das alles gehört zu den gesellschaftlichen Gesprächen, die wir gerade erst beginnen. Der Roman war für mich ein Raum, in dem ich diese Gespräche mit mir selbst, mit den Figuren, mit Nivedita und Saraswati und Priti und Oluchi führen konnte, und vor allem auch mit Kali, der Göttin Kali, mit der Nivedita die ganze Zeit (Selbst-)Gespräche führt und über die sie einen Blog schreibt.
Und dann schlug ich vor kurzem mein Exemplar von Virginia Woolfs Ein eigenes Zimmer auf, und fand darin eine Notiz von mir, die ich an den Rand einer Seite geschrieben hatte, als ich so alt war wie Nivedita, als sie Saraswati zum ersten Mal begegnet: „Erinnern = an wichtigen Ereignissen Zeit messen, je mehr Menschen sich an ein Ereignis erinnern, desto realer ist es. Wer erinnert sich, wenn das, was erinnert werden soll gemischt ist? Ausländerinnen + Erinnerung“. Es war also alles schon da. Und ich habe mich damals ernsthaft selbst als „Ausländerin“ bezeichnet! Obwohl ich in Deutschland geboren bin. Das zeigt, wie weit wir gekommen sind.

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