5 Fragen an ... Marlen Hobrack

5 Fragen an ... Marlen Hobrack

Liebe Marlen, dein Buch trägt den provokanten Titel Klassenbeste. Worum geht es darin?
Ich untersuche in meinem Buch, wie unsere Herkunft – definiert als Klassen- und Schichtzugehörigkeit und der daraus resultierenden Mentalität – unser persönliches Leben und das gesellschaftliche Zusammensein prägt. Herkunft entscheidet nicht nur über ökonomische und soziale Entwicklungschancen, die Frage also, ob es uns gelingt, gesellschaftlich aufzusteigen, unsere Ziele und Träume zu verwirklichen. Sie entscheidet auch darüber, ob wir uns zugehörig fühlen, ob wir glauben, dass politische Debatten, die von unserer „Gesellschaft“ sprechen, uns tatsächlich meinen. Wer sich ökonomisch, sozial oder kulturell ausgeschlossen fühlt, partizipiert nicht mehr an Gesellschaft. Er geht nicht mehr wählen oder wählt antidemokratische Parteien. Ich habe mich für einen sehr persönlichen Zugang zum Thema entschieden; ich erzähle von meiner Biografie und der meiner Mutter. Unsere Biografien sind „Aufstiegsbiografien“. Ich stamme aus einem bildungsfernen Elternhaus, wie meine Geschwister habe ich studiert. Meine Mutter kommt buchstäblich von ganz unten, ihr Aufstieg in die Mittelschicht war ein sehr weiter Weg. Entlang ihrer Biografie erzähle ich von einem Arbeiterinnenleben – die weibliche Perspektive bei der Betrachtung der Arbeiterschicht fehlt bisher. Sie ist aber wichtig, denn insbesondere Arbeiterinnen arbeiten ihr Leben lang „Doppelschicht“ – sie erledigen Erwerbs- und Care-Arbeit gleichermaßen. Der Titel Klassenbeste spielt auf die Figur des Klassenaufsteigers und dem damit verbundenen Narrativ an. Wir alle lesen und hören gerne Geschichten von Menschen, die es geschafft haben. Sie geben uns das gute Gefühl, dass unsere Gesellschaft im Kern gerecht ist – wer etwas leistet, der bringt es zu etwas. Dieses Narrativ stelle ich auf zwei Ebenen in Frage: Wie viele Nichtaufsteiger kommen auf einen Aufsteiger? Und muss das gesellschaftliche Ziel nicht die Auflösung von Klassen sein?

Du blickst auf die Klassenfrage aus einer dezidiert ostdeutschen Perspektive. Inwiefern kann die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR, Wendebiografien und ostdeutscher Sozialisation dazu beitragen, gegenwärtige gesellschaftliche Schieflagen besser zu verstehen?
Die DDR und die Nachwendeentwicklung ist der seltene soziologische Fall eines „Versuchslabors“ – so provokativ das auch klingen mag. Es zeigt, wie Herkunft politische Realitäten erzeugt. Die DDR definierte sich selbst als Arbeiter- und Bauernstaat, diese Bezeichnung muss man ernst nehmen. Das Proletariat hatte keine politische Macht, die lag bei der Partei, aber es prägte gesellschaftliche Normen, kulturelle Werte, Mentalitäten. Dieses Klassenbewusstsein und das damit verbundene Wertesystem wurden nach 1989 regelrecht zerschmettert. Auf ökonomischer und sozialer Ebene erlebten die Menschen nach der Wende zahlreiche Verluste und Destabilisierungen. Sie erlebten die Globalisierung in viel stärkerer Form als Menschen in Westdeutschland. Viele Krisenerscheinungen der Spätmoderne treten in Ostdeutschland wie unter einem Brennglas auf. In der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft hat sich eine Form der rohen Bürgerlichkeit etabliert. Wenn wir in Debatten von der „Mitte“ reden, meinen wir nicht diese ostdeutsche Mitte, im Gegenteil. Sie erscheint aus gesamtdeutscher Sicht als randständig, peripher, vulgär, anti-bürgerlich. Die ostdeutsche Herkunft (und die damit verbundene Mentalität) führt zu einer Entfremdung von aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten. Die Corona-Krise zeigt es nun wieder sehr prägnant.

In deinem Buch widmest du dich besonders ausführlich der Figur der arbeitenden Mutter. Hat sich dein Blick auf deine eigene Mutter durch dein Schreiben verändert?
Die Perspektive auf meine Mutter hat sich durch das Schreiben verändert, in der Tat, aber dieser Prozess begann schon vor Jahren, also lange bevor ich begann, Klassenbeste zu schreiben. Ich habe bis in meine späten 20er hinein nicht verstanden, wie sehr das Beispiel meiner Mutter mich persönlich geprägt hat. Ich habe keine Sekunde für mich selbst in Frage gestellt, dass ich arbeiten und Kinder haben würde. Das war für mich völlig normal. Ich verstand erst, dass das gar nicht so selbstverständlich ist, als ich begann, gesamtdeutsche politische Debatten zu verfolgen und Frauen aus Westdeutschland kennenlernte, die das Gefühl hatten, sie müssten sich entscheiden – für Kinder oder eine Karriere. Das Schreiben von Klassenbeste hat aber einmal mehr die Bewunderung und den Respekt für meine Mutter gestärkt, die de facto immer alleinerziehend war – auch als meine Eltern noch verheiratet waren. Und die ein hartes Berufsleben, schwere Krankheiten und die Kindererziehung gemeistert hat. Sie war mir auch eine verlässliche Stütze, als ich meinen ersten Sohn mit gerade einmal 19 Jahren bekam.

Besonders eindrücklich ist ein Bild, das du entwirfst: Der wohl bekannten „Helikoptermutter“ stellst du die sogenannte „Fallschirmmutter“ gegenüber. Was hat es mit diesen Müttertypen auf sich?
Die „Helikoptermutter“ ist zum Sinnbild der modernen, bürgerlichen Mutter geworden: Sie kreist um ihre Kinder, erklärt sie zum Zentrum ihres Daseins, versucht allen Schaden von ihnen fernzuhalten, will, dass sich ihnen Entwicklungschancen eröffnen. Die Helikoptermutter wird gerne verlacht; ich finde das zynisch, einfach deshalb, weil man Müttern damit signalisiert, dass jedes Problem des Kindes auf ihre Kappe geht – kein Wunder, wenn Mütter dann den Erfolg ihrer Kinder zu ihrem Projekt machen. Die Fallschirmmutter ist eine proletarische Mutterfigur. Sie käme nie auf die Idee, um ihre Kinder zu kreisen – das kann sie auch nicht, denn sie muss hart arbeiten und sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder Probleme des Alltags selbst lösen. Sie erzieht ihre Kinder daher zur Selbständigkeit. Ihre Aufmerksamkeit gilt eher materiellen Bedürfnissen – Nahrung, frische Kleidung – und weniger abstrakten Themen wie Bildungschancen und Selbstverwirklichung. Aber sie ist eben im entscheidenden Moment für ihre Kinder da, sozusagen als Fallschirm, der Schlimmeres verhindert. So habe ich meine Mutter und Mütter in meinem Umfeld erlebt.

In aktuellen Debatten geht es häufig um Identitätspolitik. Klassenbeste wendet sich gegen den Trend, Identitätspolitik und Klassenfragen gegeneinander auszuspielen. Welche Ansätze schlägst du in deinem Buch dazu vor?
Eigentlich ist der Streit zwischen „Identitätspolitik“ und Klassenfrage ein Richtungsstreit zwischen klassischer (marxistisch geprägter) Linke und Linksliberalen. Das „links“ in linksliberal bezieht sich eher auf eine progressive Einstellung in gesellschaftspolitischen Fragen – beispielsweise was sexuelle Identitäten oder die reproduktive Selbstbestimmung anbelangt. Soziale Anliegen treten eher in den Hintergrund. Beide Positionen haben offensichtlich eine Daseinsberechtigung, sie gegeneinander auszuspielen, hilft niemandem. Zumal die Identitätspolitik (der Begriff wurde in den 70er Jahren geboren) aus der Erkenntnis geboren wurde, dass klassenbezogene, rassistische und sexistische Unterdrückung miteinander verschränkt sind. Identitätspolitik kann ein Ermächtigungsinstrument sein, weil es hilft, uns innerhalb gesellschaftlicher Konfliktlinien zu verorten. Es macht eben einen Unterschied, ob man ein westdeutscher Arbeiter oder eine ostdeutsche Arbeiterin ist. Zuletzt beobachte ich die Entwicklung einer ostdeutschen Identitätspolitik. Im Gegensatz zur kitschigen Ostalgie der 90er und den Verlust-Diskursen der 2010er Jahre eröffnet sie vielleicht die Möglichkeit für eine Besinnung auf Herkunft (aber nicht im völkischen Sinne!) als geteilte Mentalität, als Summe geteilter Werte. Gesellschaftspolitik, die diese Mentalitäten berücksichtigt, kann womöglich Wählerschichten, die längst verloren scheinen, wieder erreichen.

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