5 Fragen an ... Marion Messina

5 Fragen an ... Marion Messina

Liebe Marion Messina, würden Sie sagen, Ihr Roman ist das Porträt einer neuen „verlorenen Generation“?
Absolut. Wir sind die ersten, die wirklich ein Bewusstsein davon haben, dass das westliche Lebensmodell, das überall in der Welt als Modell hochgehalten wird, eine ökologische Sackgasse ist aus der wir nur schwerbeschädigt herauskommen werden. Wir werden mit alarmistischen Diskursen zugeschüttet, haben aber keine konkreten Mittel, um einen Übergang herbeizuführen. Zum Beispiel haben mittlerweile sehr viele Menschen verstanden, dass ein eigenes Auto gewisse Probleme mit sich bringt. Und trotzdem sind wir noch davon abhängig, um zur Arbeit zu kommen, einzukaufen, uns um unsere Gesundheit zu kümmern, unser Sozialleben zu pflegen usw. Wir erleben, dass die aktuelle Regierung nichts tut, alles lastet auf unseren zarten Schultern, um Alternativen zu finden, obgleich wir zur Unfähigkeit erzogen worden sind und in der Vereinzelung unserem Schicksal nachgehen. Wir wissen auch, dass die Metropolen kurz davor sind zu implodieren, haben aber zum Teil keine andere Wahl, als in ihnen zu leben, vor allem in Frankreich, einem hyperzentralistischen Staat.
In meinen Augen sind wir viel zu viele, die in der Depression feststecken, wenn wir nicht zynisch werden oder allem gleichgültig gegenüberstehen. Unsere Hirne sind krank, letzten Endes kränker als unsere Körper, und die psychiatrische Medizin auf Basis von Medikamenten bietet da keinen Ausweg. Wir sehen die Absurdität unseres Lebens und die wenigen Mittel, die wir haben, etwas zu ändern. Wir besitzen nicht dieselbe wirtschaftliche Flexibilität wie die Babyboomer-Generation, die in den Siebzigern aus den Städten weggezogen ist, um zum Beispiel ein Gut auf dem Land zu kaufen. Die in den Städten entstandene prekäre Arbeitswelt, in der eine Einzelperson kaum ausreichenden Platz zum Leben findet, erschwert ernsthaft jede Form von Liebesleben. Wir sind verloren, auf allen Ebenen. Das Ergebnis ist eine Jugend, die trinkt, sich weigert erwachsen zu werden, keine Kinder mehr bekommt usw.

In Frankreich ist Ihr Roman im Jahr 2017 erschienen. Man hat den Eindruck, dass die gesellschaftlichen Spaltungen, die sie darin beschreiben, immer gravierender werden. Wie sehen Sie Ihren Roman in Bezug auf die aktuelle Krise in ihrem Land? Und würden Sie heute noch einmal dasselbe Buch schreiben?
Ich denke Fehlstart ist aktueller denn je und ich würde darin keine Zeile ändern. Das zeigt mir, dass ich diesen Roman keineswegs geschrieben habe, um einer bestimmten Mode zu entsprechen oder einem Verleger zu gefallen. Ich habe dieses Buch aus einer Dringlichkeit heraus geschrieben, wie man eine Flaschenpost ins Meer wirft. Die Literatur ist wichtiger denn je, weil sie die Seele der Menschen berührt und ihr Unterbewusstsein weit mehr prägt, als es beispielsweise ein Film kann. Das geschriebene und festgehaltene Wort konfiguriert die Gedanken neu, dort, wo der Film nur eine visuelle Spur hinterlässt, wenn auch eine ästhetisch perfekte. Heute geht es darum, die gesellschaftlichen Tabus zu brechen, das Unausgesprochene, das mit Scham verbunden ist: die Einsamkeit der Jugend, die Depression, die Wut, die Unsinnigkeit bestimmter Berufe, das Erniedrigende bestimmter kleiner Arbeiten, die immer mehr Zeit in Anspruch nehmen, die geistige Leere, die in der höheren Bildung herrscht, der Einfluss der Pornographie, die unser Sexualleben langweilig und gleichförmig macht. Wir müssen aufhören, eine egozentrierte oder pseudohistorische Literatur zu produzieren, die sich nur mit uninteressanten Ereignissen beschäftigt, die zum hundertsten Mal neu betrachtet, verdaut und wieder ausgespuckt werden. Ich wünsche mir nicht, dass in zweihundert Jahren, in einer radikal anderen Welt, in der aber die Bücher von der unseren berichten, unsere Nachkommen sich fragen, „wie kann es sein, dass die Bücher Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts so hohl waren, wo in dieser Zeit doch so viel passiert ist?“. Wir müssen wirklich zeitgenössische, mutige Romane schreiben und schon jetzt eine Literatur der Selbstverwirklichung als überholt erklären, die die Menschen in einer globalen Analyse ihrer Probleme blockiert und ihnen vorgaukelt, wenn es der Welt schlecht geht und sie davon betroffen sind, es ausreicht, nur genug an sich zu arbeiten.

Sie sind recht schonungslos mit ihren Figuren in der Beschreibung ihrer Fehler und ihrer Einsamkeit. Gibt es in Ihnen neben der Wut auf eine verdummende und selbstzerstörerische Gesellschaft auch eine Wut auf die junge Generation, die sich auf ein Abstellgleis schieben lässt?
Nein, absolut nicht. Ich glaube, man schreibt aus Liebe, nicht aus Hass oder Abscheu. Die Gesellschaft geht mir auf die Nerven, aber ich urteile in keinster Weise über den einzelnen Menschen. Wir müssen lernen, unsere Bekanntschaften ganz gezielt auszuwählen und absolut keine Zeit verlieren. Wieder lernen, die Zeit wertzuschätzen und sie als den einzigen Schatz in diesem Leben begreifen. Ich sehe immer mehr Menschen in meinem Alter, und sogar jüngere, die sich aus der Konditionierung befreien und tastend den Ausgang aus der Höhle suchen.

Weil Ihr Stil oft sehr bissig und sezierend ist und Sie in Ihrem Roman die Kommerzialisierung von Sexualität bis in unser Intimleben herausstellen, sind Sie oft mit Michel Houellebecq verglichen worden. Wie denken Sie über diese „Verwandtschaft“ und inwiefern unterscheidet sich Fehlstart Ihrer Meinung nach vom Werk Michel Houellebecqs?
Die „Verwandtschaft“ mit Houellebecq stört mich keineswegs, aber man muss klar sagen, von welchem Houellebecq man spricht. Der Vergleich, der in Frankreich gemacht wurde, bezog sich auf Ausweitung der Kampfzone und Fehlstart, zwei Debütromane von zwei vollkommen unbekannten Autoren, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch ganz normalen Berufen nachgingen. Dieser Vergleich wurde ganz zu Recht angestellt, wohingegen man schon sehr bösgläubig sein müsste, wenn man Fehlstart mit Serotonin vergleichen wollte. Bei Houellebecq mag ich die Beschreibung der Menschen, ihrer Gesten, ihrer Sprache. Man merkt, dass er die Menschen betrachtet wie ein Ornithologe oder ein Gerichtsmediziner. Das haben wir gemeinsam, diesen Sinn fürs Detail, diese Art, den Finger auf die entscheidende, kaum sichtbare Stelle zu legen. Ohne von der etwas bösen Ironie zu sprechen, die unsere nationale Spezialität ist! Auf der anderen Seite finde ich Houellebecq zwar sehr klarsichtig, aber dann auch wieder sehr milde bezüglich bestimmter gesellschaftlicher Übel: er verteidigt die Prostitution, das unabdingbare Recht auf Sexualität, wie auch immer es um die Frau dabei bestellt ist, seine Helden sind depressiv, weil sie zu verwöhnt und zu reich sind. Ich wiederum spreche von jungen Menschen, die sich trotz Vollzeitjob kein Zimmer in Paris leisten können. Wir sprechen schon nicht mehr von derselben Welt. Ich kann Ihnen versichern, dass die Lektüre von Serotonin, dessen Protagonist ein Obdachloser ist, der im Hotel schläft, weil er 700.000 Euro auf dem Konto hat, inmitten der Proteste der Gelbwesten, eine ziemlich ärgerliche Angelegenheit ist.

Eine der Stärken Ihres Romans ist, dass er sich seinen Protagonisten auf eine dokumentarische, fast soziologische Art und Weise nähert. Sprachlos und wütend verfolgt man Aurélie und Alejandro auf ihren Wegen voller Hindernisse, aber mit ihnen identifizieren kann man sich meistens nicht. Wie würden Sie ihre Beziehung zu Ihren Figuren beschreiben und in einem weiteren Sinne Ihre Beziehung zur Literatur?
Die Figuren und der Roman sind ein Spiegel. Sie werfen uns auf uns selbst zurück, im vollen Wissen, dass das was wir sehen, ein authentisches, aber dennoch deformiertes Bild ist. Ich bin ein bisschen wie die Mutter meiner Figuren. Ich liebe sie, was immer sie auch tun, aber ich kann nicht umhin, sie manchmal zu ohrfeigen, auch wenn sie schon erwachsen sind. Auf die Literatur bezogen hängen diese Gefühle sehr vom Autor ab. Bei französischen Autoren sind es normalerweise die Figuren, die mich beschäftigen; ich kreise um sie herum, kann mich aber nur sehr selten mit ihnen identifizieren, mit Ausnahme von Louis-Ferdinand Céline und Louis Calaferte. Bei den Engländern oder Lateinamerikanern wiederum gehe ich komplett in die Falle. Martin Eden von Jack London oder Horacio Oliveira von Julio Cortázar, das bin ich!

Aurélies Erwachsenenleben beginnt mit einem Fehlstart. Wo sehen Sie sie heute?
Heute wäre Aurélie ungefähr dreißig Jahre alt. Ich denke, sie wäre mittlerweile Teil des Lumpenproletariats 2.0 einer großen Stadt in der französischen Provinz, immer noch dabei, nach einer Alternative zu suchen. Mit Sicherheit hätte sie keine Kinder. Es ist der Kampf eines Lebens. Ich habe mehr und mehr das Gefühl, Teil einer Gruppe von Pionieren zu sein, die nach einem Ort suchen, an dem sie sich niederlassen können. Die Generation, die nach uns kommt, wird viel schneller zum Kern der Dinge vorstoßen können. Wir sind eine Übergangsgeneration in einem zivilisatorischen Winter. Das ist schwierig, aber auch aufregend, und für einen Schriftsteller: unendlich inspirierend.

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