5 Fragen an ... Lola Lafon

5 Fragen an ... Lola Lafon

Liebe Frau Lafon, die Welt des Showtanzes in Komplizinnen ist ebenso detailreich und lebendig beschrieben, wie die Protagonistin Cléo. Was kam zuerst, die Idee einen Roman in der Tanzwelt anzusiedeln oder die, ein Mädchen zur Komplizin in einem Netzwerk sexueller Ausbeute zu machen?
Komplizinnen entstand aus dem Bedürfnis und dem Wunsch heraus, das anzusprechen, was ich im Roman das Konzept des "bösen Opfers" nenne – diejenigen, die sich nicht berechtigt fühlen, Opfer zu sein, weil sie sich selbst schuldig fühlen. Schuldig, eine Einladung angenommen zu haben, auffallen zu wollen, gefallen zu wollen. Sexuelle Gewalt steht seit meinem ersten Roman Une fièvre impossible à négocier im Mittelpunkt meiner Romane. Ich versuche, auf dem Weg der Literatur einen Zugang zu diesen Fragen zu ermöglichen, ohne jemals Antworten darauf zu haben.

Während die Protagonistinnen der #metoo Bewegung reiche Celebrities sind, kommen die Figuren Ihres Romans aus einfachen Verhältnissen, haben berufstätige Eltern und große Träume. Inwiefern stehen Armut und sexuelle Ausbeute miteinander in Beziehung?
Die Mädchen in Komplizinnen sind nicht "arm", aber sie gehören einer Mittelschicht an, in der es neben finanziellen Mitteln vor allem an dem Selbstbewusstsein, laut seine eigene Meinung äußern zu können, mangelt. Ich glaube, dass "Ich" sagen und seine eigene Geschichte erzählen zu wollen, viel mit dem Umfeld, in das man sozialisiert wurde, zu tun hat. Sich nicht "wichtig" zu fühlen, nicht wichtig genug, um sich seinen Eltern anzuvertrauen, ist ein Schicksal, das die jungen Tänzerinnen dieses Romans teilen. In diesem Sinne gibt es einen Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und Klasse.

In Ihrem Roman rücken die Männer in den Hintergrund, werden auf „krabbelnde Finger“ reduziert. Die Verführung und Gefahr geht stattdessen von der schillernden, allseits bewunderten Cathy aus. Wie sind Sie auf diese einzigartige Figur gekommen?
In Komplizinnen gibt es einige männliche Figuren: ob es nun Yonasz ist, eine Schlüsselfigur in Cleos Leben, sein Vater Serge, oder Anton, Bettys Neffe. Aber in der Tat sind die Aggressoren vielmehr skizziert als detailliert. Ich wollte sie nicht zu wichtigen Charakteren machen, weil die Figur des sexuellen Aggressors meiner Meinung nach im Mittelpunkt so vieler Filme und Romane steht und eine solche Faszination ausübt …
Bezüglich Cathy: In den meisten Fällen von Pädokriminalität gibt es Frauen, die als "Köder" fungieren, aus offensichtlichen Gründen: Sie wecken Vertrauen. Komplizinnen beruht auf einem Ereignis aus meiner eigenen Jugendzeit. Auch ich habe also eine "Cathy" getroffen. Im Roman verfügt Cathy über eine unaufhaltsame Waffe: die Liebe, die Cléo und die anderen Mädchen für sie empfinden. Cathy nährt diese Liebe gekonnt, jedes Wort, jeder Blick sind wohl durchdacht. So funktioniert das Umzingeln der Beute fast immer auf die gleiche Weise. Ich wollte dieses System sezieren.

Auf Deutsch erschien zuletzt Ihr Roman Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte, in dem Sie die Geschichte der Olympionikin Nadia Com?neci erzählen. Nun werfen Sie erneut einen sehr genauen, fast hartnäckigen Blick auf den weiblichen Körper. Was sehen Sie?
Ich bin in der Tanzwelt aufgewachsen und kenne sie sehr gut. Sie hat mich geformt, bis hin zu meinem Verstand. Ich glaube, dass meine professionelle Tanzausbildung die Art und Weise beeinflusst, wie ich heute schreibe. Für mich ist das Schreiben ein körperlicher, totaler Akt. Komplizinnen ist gewissermaßen mein Roman aus dem Backstage: dem Backstage des Tanzes, aber auch dem Backstage unseres Alltags, ein Blick hinter das „offizielle“ Leben der Figuren. Unter die Haut zu gehen, die körperlichen Auswirkungen der Dinge zu sehen, die wir erleben, unserer Emotionen – so verstehe ich fiktionales Schreiben. Meiner Meinung nach macht ein großer Teil der Literatur den weiblichen Körper zum Objekt der Begierde, zu etwas, das bewertet, beurteilt, debattiert, phantasiert wird. Ich ziehe es vor, ihn zu einem handelnden Subjekt zu machen, und ich versuche, jede seiner Reaktionen, jedes seiner Ausweichmanöver genauestens zu beobachten.

Eine der Zeuginnen, die die Journalistin Enid befragt, gibt zu: alle wussten es, niemand sprach. Ihr Roman, aus vielen unterschiedlichen Perspektiven erzählt, inszeniert, wie kollektives Schweigen funktioniert. Wie kamen Sie darauf, auch die Perspektive beispielsweise der Ankleiderin Claude oder des Neffen Anton aufzunehmen?
Jede der Figuren des Romans ist auf ihre Weise Opfer und Täter zugleich: Claude ist ein Opfer des Neoliberalismus, sie wird wegen ihres Alters aus dem großen Pariser Kabarett ausgeschlossen. Aber sie ist auch schuldig, da sie Cléo nicht unterstützt. Anton ist ebenfalls ein Komplize des Schweigepaktes seiner Familie. Doch dann ist er der erste, der eine Veränderung herbeiführt. Indem er seine Tante Betty zum ersten Mal nach ihrer Geschichte fragt, entscheidet er sich, mit der „offiziellen“ Familienerzählung zu brechen. Er steht für eine neue Generation. Jede der Figuren spiegelt eine Facette von Cléo oder Betty wider. So verkörpert die Konstruktion des Romans formal eine meiner festen Überzeugungen: Wir werden von unseren Begegnungen bestimmt, sie formen uns, verwandeln uns, bauen uns auf, egal ob sie erfolgreich, gescheitert oder sogar tragisch sind. Cléo wird durch jede ihrer Begegnungen "vergrößert".

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