5 Fragen an ... Linda Scott

5 Fragen an ... Linda Scott

Liebe Linda Scott, im Zentrum Ihres Buchs steht eine augenöffnende Beobachtung, die vielen Menschen kontraintuitiv erscheinen mag. Sie sagen, dass die Geschlechtergerechtigkeit kein Luxus sei, den sich westliche Länder aufgrund ihres Wohlstands leisten können. Vielmehr sei umgekehrt deren Reichtum ein direktes Ergebnis der Fortschritte, die in diesem Bereich gemacht wurden. Können Sie diesen Zusammenhang erläutern?
Die westlichen Länder wurden zu wirtschaftlichen Supermächten, als verheiratete Frauen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zunehmend berufstätig wurden. Männer sind die Grundlage jeder Volkswirtschaft, weil fast alle von ihnen in Vollzeit arbeiten, doch wenn alle männlichen Arbeitskräfte ausgeschöpft sind, kann es – außer durch eine Revolution der Produktivität – in diesem Bereich kein zusätzliches Wachstum geben. Frauen blieben traditionell zu Hause, vor allem, wenn sie verheiratet waren. Ihr Potential, bezahlte Arbeit zu leisten, wurde also nicht ausgeschöpft. Werden die ihnen auferlegten Beschränkungen aufgehoben, strömen sie auf den Arbeitsmarkt. Das Ergebnis ist ein stetiger Aufwärtstrend des BIP. Die westlichen Länder machten diese Erfahrung alle im gleichen Zeitraum, nämlich beginnend in den 1970er-Jahren. Seit damals wurde der Zusammenhang zwischen der Berufstätigkeit von Frauen und dem BIP mit Daten aus 163 Ländern belegt. Auch ein Vergleich gegenwärtiger Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stärkung von Frauen mit dem BIP des jeweiligen Landes zeigt deutlich, dass hier ein Zusammenhang besteht.

Mit dem Begriff „XX-Ökonomie“ oder „weibliches Kapital“ beschreiben Sie die weltweite kollektive Wirtschaftskraft von Frauen. Wie würden sie Ihren Begriff in drei Sätzen charakterisieren?
„XX-Ökonomie“ bezieht sich auf die kollektive Ökonomie von Frauen weltweit. Neue internationale Daten zeigen, dass die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen auf der ganzen Welt ähnlichen Einschränkungen unterliegt und zu einem wiederkehrenden Muster an Benachteiligungen führt, das in jedem Land auftritt. Die Einschränkungen der XX-Ökonomie mindern das Wachstum und wirken sich negativ auf die humanitäre Situation aus. Die Aufhebung der Beschränkungen würde vor allem in armen Ländern zu mehr Wohlstand führen und einige der tragischsten Weltprobleme lösen.

Ihr Buch ist sowohl ein gründlicher Forschungsbericht als auch ein inspirierender Aufruf zur wirtschaftlichen Stärkung von Frauen. Sie forschten jahrzehntelang zu diesem Thema und nehmen an Konferenzen der hochrangigsten UN-Gremien teil. Sie haben die Fortschritte miterlebt, wissen aber auch um die enorme Schwierigkeit, der wirtschaftlichen Rolle von Frauen zur nötigen Aufmerksamkeit zu verhelfen. Was sollen Ihre Leserinnen und Leser aus der Lektüre des Buches mitnehmen?
Ich möchte, dass meine Leserinnen und Leser ein ganz neues Verständnis der wirtschaftlichen Situation von Frauen entwickeln, das auf Evidenz statt auf Spekulation basiert. Sie sollen erkennen, dass diese neue Vision die Hoffnung birgt, eine Reihe von Weltproblemen allein durch die Aufhebung dieser Ungerechtigkeit zu lösen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Lektüre viele Menschen zunächst schockiert und verärgert. Doch wenn sie zur letzten Seite gelangen, sollen sie so viel Hoffnung empfinden, dass sie sofort überlegen, wie sie selbst helfen können.

Die in Ihrem Buch präsentierten Ergebnisse sind durch jahrzehntelange Forschungs- und Beratungstätigkeit entstanden. Was hat Sie veranlasst, ihr Berufsleben diesem Bereich zu widmen?
Leidenschaft und Neugier. Die Arbeit begann mit einer Forschungsfrage, die sich aus meinem vorherigen Buch ergab – einer Geschichte des US-amerikanischen Feminismus und des Aufstiegs der Schönheits- und Modeindustrie. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die amerikanische Frauenbewegung und die Entstehung der modernen Wirtschaft sich wechselseitig bedingt hatten. Das ist nicht gerade die konventionelle Lehrmeinung. Ich wollte herausfinden, ob ähnliche Einflüsse in den Entwicklungsländern Frauen zu mehr Autonomie verhelfen und gleichzeitig Armut mindern könnten – so wie es in den USA geschehen war.
Mit Beginn meiner ersten Forschungsprojekte gab es plötzlich großes Interesse von Seiten internationaler Hilfsorganisationen hinsichtlich genau dieser Frage. Da ich zu den ganz wenigen Menschen gehörte, die sich mit diesem Thema beschäftigten, wurden mir plötzlich noch mehr Projekte angeboten. Ich fühlte mich wie ein Kind im Süßwarenladen und griff zu. In jenen Jahren arbeitete ich mich fast zu Tode, war ständig unterwegs, oft in den ärmsten und abgelegensten Gegenden der Welt. Alle anderen Bereiche meines Lebens litten unter dieser Arbeit, aber ich konnte nicht aufgeben. Ich lernte so viel, und wenn eine Frage beantwortet war, entstand schon die nächste. Ich suchte nach Antworten. Als ich merkte, dass ich ein weltweites Problem aus nächster Nähe betrachtete, und als die großen Datensätze entstanden, suchte ich mit noch größerer Leidenschaft nach Antworten. Irgendwann hatte ich das Gefühl, ein umfassendes Bild der wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Frauen erstellt zu haben und es auch beweisen zu können. Nun brannte ich darauf, die Nachricht von der langen, weltweiten ökonomischen Ausgrenzung der Frauen einem möglichst großen Publikum nahezubringen.

In Zeiten von Covid-19 werden die Prekarität der XX-Ökonomie und die Herausforderungen für Frauen weltweit besonders sichtbar – wie unter einem Brennglas. Überrascht Sie das? Und was fordern Sie von der Politik und von uns allen in diesen Zeiten?
Ich war nicht überrascht, dass die plötzliche Schließung von Schulen und Kindertagesstätten die Frauen so hart treffen würde. Ich selbst betreute in den ersten Wochen der Pandemie rund um die Uhr mein vierjähriges Enkelkind, obwohl ich selbst wichtige Verpflichtungen hatte. Ich war völlig erschöpft.
Tatsächlich macht die COVID-Pandemie die weltweite Dimension der XX-Ökonomie klar sichtbar. Ich würde vorschlagen, dass entsprechende Interessengruppen sich zunächst auf die unmittelbaren Probleme konzentrieren. Die westlichen Finanzministerien werden ihre Bruttosozialprodukte so schnell wie möglich wieder erhöhen wollen und dafür zu fast allem bereit sein. Wahrscheinlich werden sie den Frauen als Gruppe dennoch kaum Beachtung schenken, weil sie fälschlicherweise glauben, alle Maßnahmen und Programme wirkten sich auf Männer und Frauen gleichermaßen aus. Zudem nehmen Menschen in diesen Funktionen meist an, dass Frauen keinen signifikanten Beitrag zum BIP leisten – obwohl Frauen vor der Pandemie zwischen 35 und 45 Prozent des BIP der westlichen Länder erwirtschaftet haben. Frauen sollten den Regierungen zeigen, wie wichtig die XX-Ökonomie für die Erholung der Wirtschaft ist. Es wäre verrückt, das zu ignorieren. Sie sollten auf bessere Schutzmaßnahmen in den Branchen bestehen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten und die am stärksten von der Pandemie betroffen sind. Von Frauen geführte Unternehmen benötigen besondere Kredite und Kapitalzuschüsse. Vor allem besteht der dringende Bedarf nach Kinderbetreuung. In den ersten Wochen oder Monaten hatten beinahe ausschließlich die Frauen eine Kinderbetreuung, bei denen Verwandte (wie ich) einspringen konnten. Das bedeutet, dass fast alle weiblichen Arbeitskräfte nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung standen. Die sichere Betreuung der Kinder sollte für die Regierungen jetzt eine der wichtigsten Prioritäten sein, um die Erholung der Wirtschaft anzukurbeln. Aufgrund dieser Erfahrung haben einige Regierungen bereits begriffen, dass Kinderbetreuung kein Luxus, sondern eine Form von Infrastruktur ist. Das sollten alle westlichen Staaten aus der Pandemie gelernt haben. Aktivistinnen und Aktivisten sollten den Blick auch darauf lenken, dass Frauen meist in Teilzeit und in besonders vulnerablen Branchen tätig sind und kaum Zugang zu Krediten und Kapital haben, um ihre Unternehmen am Leben zu erhalten. Diese Probleme sollten jetzt durch vorläufige Notfall-Maßnahmen und nach der Pandemie endgültig gelöst werden. Wir sollten diese historische Möglichkeit nicht verpassen, die XX-Ökonomie für die Regierungen dieser Welt sichtbar zu machen. Ich sage voraus, dass die Welt nie mehr dieselbe sein wird, wenn diese Lektion gelernt wird.

 

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