5 Fragen an ... K-Ming Chang

5 Fragen an ... K-Ming Chang

Liebe K-Ming Chang, in Bestiarium eröffnest du deinen Leserinnen und Lesern eine inspirierende Perspektive auf Generationen, die nicht linear, sondern eher horizontal miteinander verbunden sind. Was ist dein Verständnis von Generationen und was, glaubst du, können Menschen unterschiedlicher Generationen voneinander lernen?
Vielen Dank für diese Frage! Was mich interessiert, ist die Durchlässigkeit von Generationen, und dass es bei intergenerationalen Beziehungen genauso um Wiederholung und geteilte Identität geht wie um Differenz. Ich wollte, dass sich die Stimmen aller drei Generationen vermischen, sie sich am Wortschatz der jeweils anderen bedienen. Ich wollte, dass sie sich überschneiden, daher werden bestimmte Wörter, Bilder und Satzkonstruktionen von allen drei Frauen geteilt. Wir gehen meist davon aus, jüngere Generationen würden sich klar von den älteren abgrenzen, aber was mich hier viel mehr interessiert hat, war deren Überschneidung. Wie Traumata und Freude und Verlust vererbt und geteilt werden können und sich immer weiter durch Generationen hinweg ziehen. Ich wollte das klassische Narrativ umdrehen, laut dem ältere Familienmitglieder genuin repressiv sind, während sich die jüngeren von dieser Unterdrückung befreien müssen. In Bestiarium gräbt vielmehr die Figur der Tochter ihre Sexualität aus, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, die Möglichkeiten der Welt, indem sie immer tiefer nach den vielen Strängen ihrer Herkunft forscht. Ich bin davon überzeugt, dass Generationen nicht linear oder progressiv sind, sondern zirkulär – mir war es wichtig, dass alle Figuren um ähnliche Sehnsüchte kreisen und mit ihrer jeweiligen Vergangenheit/Zukunft/Gegenwart verwoben sind. Meine Mutter hat immer gesagt, dass Eltern genauso viel, wenn nicht sogar mehr, von ihren Kindern lernen wie Kinder von ihren Eltern. Sie glaubte fest daran, Wissen und Geschichten in alle Richtungen teilen zu können. Und ich bin sicher, auch außerhalb biologischer Abstammung gibt es eine horizontale Herkunft – auch unsere Freund*innen und Wahlfamilien können unsere Vorfahren sein.

In deinem Roman spielt die Kraft der Mythen, die zwischen den Generationen weitergegeben werden, eine wichtige Rolle. Wo hast du Inspiration dafür gefunden?
Die Geschichte von Hu Gu Po war eine von vielen Kindergeschichten, die ich immer wieder hören wollte. Jeden Abend bettelte ich bei meiner Mutter darum. In meiner Kindheit teilten mein Bruder, meine Mutter und ich uns ein Bett im Haus meiner Großmutter und ich weigerte mich meistens, schlafen zu gehen. Ich glaube, sie erzählte mir die Geschichte von Hu Gu Po, um mich zu beruhigen, was sehr ironisch ist, denn es geht in der Geschichte um einen fleischfressenden Tigergeist, der die Zehen kleiner Kinder isst. Aber ich war so bezaubert von dieser Tigerfrau, die einen Bösewicht darstellen sollte. Meine Mutter erzählte mir immer, dass Hu Gu Po die Kinderzehen „Erdnüsse“ nannte und dass sie Jagd auf Kinder machen musste, um den Körper einer Frau zu behalten. In der Geschichte, wie meine Mutter sie erzählte, handelte die Tigerfrau nicht aus Grausamkeit, sondern aus Verzweiflung. Ich fühlte mit dieser Tigerfrau, die gewaltvolle Taten beging, weil sie glaubte, keine Wahl zu haben. Als ich älter wurde, merkte ich, dass die Beziehung meiner Mutter zu dieser Erzählung sehr kompliziert war, dass sie eigentlich Geschichten und Wissen dadurch weitergab – sie erzählte mir eine Geschichte darüber, was es bedeutet, eine „schlechte“ Mutter zu sein, die widersprüchliche Gefühle ihren Kindern gegenüber hegt, und was es bedeutet, mit der Fähigkeit auf die Welt zu kommen, Gewalt auszuüben. Es war die Geschichte vieler Generationen meiner Familie. Mythen ermöglichten, ganz unbeschönigt so viele unterschiedliche Wahrheiten und Geschichten zu transportieren. Innerhalb von Mythen ist Raum für Magisches, Intervention und Transformation – jedes Mal, wenn meine Mutter mir eine Geschichte erzählte, war es eine vollkommen andere Version, denn das Erzählen gab ihr Gestaltungsspielraum, etwas, das einem im echten Leben oft verwehrt wird. Die Frauen in meiner Familie haben mich gelehrt, dass Geschichten erzählen vielmehr subjektiv und körperlich als autoritär ist.

Im Laufe des Romans wächst der Protagonistin Tochter ein Tigerschwanz – eine mehrdeutige Metapher. Gleichzeitig scheint es mehr als nur eine Metapher zu sein. Was symbolisiert der Tigerschwanz für dich?
Das ist eine tolle Frage, denn tatsächlich ändert sich das ständig. Genau das war eine der zentralen Fragen, die ich während der Überarbeitung des Romans nicht lösen konnte: Was genau bedeutet der Schwanz für Tochter? Ich stellte fest, dass er viele Bedeutungen hatte, dass er trotz seiner linearen Form sehr vielgestaltig war – der Schwanz ist etwas, das durch ihre Wut zum Leben erweckt wird, etwas das als Waffe eingesetzt werden kann, was sowohl ein Gefühl von Macht als auch Furcht in ihr auslöst. Zugleich scheint der Schwanz außerhalb ihrer Kontrolle zu liegen oder gar ein Eigenleben zu führen. Ich wollte, dass er all diese Dinge gleichzeitig ist, denn Tochters Erbe ist sehr komplex – sie bekommt so viel Liebe und Geschichten vermacht, aber auch Gewalt und den Wunsch zu verletzen. Der Schwanz ist auch in dieser Hinsicht zweischneidig – er bindet sie an die Frauen ihrer Familie, aber er erinnert sie auch an die Möglichkeit, Gewaltzyklen fortzuführen. Für mich ist der Schwanz auch in gewisser Weise erotisch, so ist er zwar eine Wurzel der Gefahr, aber gleichzeitig auch ein Teil ihres Körpers und ihrer Lust. Ich habe viele unterschiedliche Versionen des Tigerschwanzes geschrieben, sogar ein alternatives Ende, bei dem der Schwanz sauber abgetrennt wird – aber Ben, die Freundin von Tochter, intervenierte in dieser Szene, und mir wurde bewusst, dass sie recht hatte. So einfach konnte es nicht sein – Tochter kann sich nicht von der Geschichte und von ihrer Familie abtrennen, sie wird immer mit der zweiseitigen Art ihrer Herkunft umgehen müssen.

Bisher hast du viel Lyrik geschrieben. Bestiarium ist dein erster Roman. Inwiefern ermöglichte dir diese neue Art zu schreiben andere Wege, dich auszudrücken?
Prosa zu schreiben, war eine große Freude für mich, denn ich fühlte mich wie eine blutige Anfängerin. Es ist so ein großartiges Gefühl, sich komplett neu auf eine Form einzulassen – ich hatte keinerlei Erwartungen an mich selbst, ich konnte mich experimentierfreudig und spielerisch ans Schreiben machen. Ich habe mir erlaubt, zu schreiben, was ich wollte, und mich durch die Sprache führen zu lassen, zunächst ohne über Erzählstränge, Figuren oder die Struktur nachzudenken. Es war wie ein sprachlicher Spielplatz und ich musste beim Schreiben nicht über Zusammenhänge nachdenken. Prosa zu schreiben, hat mich überrascht und mir gezeigt, was alles möglich ist. Es hat mir erlaubt, zu wachsen.

Dein Roman ist voller starker weiblicher und queerer Stimmen. Was bedeutet queeres Schreiben für dich?
Es gibt viele queere Autor*innen, die mich inspirieren, zum Beispiel Qiu Miaojin, Justin Torres, Dorothy Allison, Chih Ying Lay und viele andere – für mich ist queerness ein Akt der Fantasie. Mich inspiriert die Art, auf die lesbische Autor*innen wie Dorothy Allison Begehren und Körper fokussieren. All die oben genannten Autor*innen haben mich gelehrt, dass es möglich ist, gleichzeitig über Familie und queerness zu schreiben, und dass Sprache unendlich expansiv und intensiv sein kann. Für mich kann queeres Schreiben alles sein – ich glaube, es gibt unglaublich viel Raum für subversives Schreiben, das das Mögliche neu erfindet und Kategorien sprengt. Ich hoffe, dass meine Art zu schreiben auf diese Weise queer ist – lebendig und wild, voller neuerzählter Herkunftsgeschichten und durchbrochener Binaritäten.

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