5 Fragen an ... Julia von Lucadou

5 Fragen an ... Julia von Lucadou

Dein letzter Roman, Die Hochhausspringerin ist in einer dystopischen Zukunft angesiedelt, die beim Lesen zunehmend ihre Ferne verliert und erschreckend nah kommt. Tick Tack, dein neuer Roman spielt in der unmittelbaren Gegenwart, fast in Echtzeit. Wie hast Du das beim Schreibprozess empfunden, was erfindet sich leichter, die Zukunft oder die Gegenwart?
Ich schreibe, um die Welt, in der ich lebe, besser zu verstehen. Beide Romane sind aus meiner Auseinandersetzung mit persönlichen und gesellschaftlichen Krisen in der Gegenwart entstanden. Und dabei hilft es mir, Beobachtungen zu verdichten oder zuzuspitzen. In Die Hochhausspringerin habe ich meine realen Erfahrungen ins Dystopische zugespitzt. Auch Tick Tack beruht auf eigenen Erfahrungen und auch dort gibt es ein gewisses Maß an Zuspitzung - durch den sarkastischen, fast satirischen Humor, mit dem die junge Protagonistin Mette die Welt betrachtet. Schwer zu sagen, was leichter ist: In Die Hochausspringerin habe ich eine komplett eigene Welt erfunden und musste die kleinsten Details mitdenken, andererseits hatte ich dadurch auch ganz viel kreativen Freiraum. Da _Tick Tack_, wie du sagst, „in Echtzeit“ spielt, hat sich der Text ständig verändert und angepasst. Es gab viel mehr direkte Impulse von außen - wie die Coronakrise, die ich nicht ignorieren konnte und auf die ich reagieren musste. Es fühlte sich ein bisschen an wie ein Live-Kommentar, was anstrengend war, aber auch sehr cool, weil ich eine Möglichkeit hatte, das Ganze durchs Schreiben direkt zu verarbeiten.

Tick Tack wird aus zwei Perspektiven erzählt, abwechselnd sind wir bei Mette (15) und Jo (26) – und schauen ganz unmittelbar in ihre Gedanken-und Gefühlswelt. Beide Figuren haben jeweils einen ganz eigenen, intensiven, charakteristischen Ton. Wie bist Du beim Schreiben vorgegangen, hast Du die Szenen auch jeweils im Wechsel geschrieben, oder bleibst Du beim Schreiben über längere Strecken bei einer Figur?
Schreiben ist für mich ein bisschen wie Schauspielern. Ich tauche ganz tief in die Figuren ein, aus deren Sicht ich schreibe, und beginne dann sozusagen innerlich ihre individuelle Sprache zu sprechen und ihre Gefühle zu fühlen. Das heißt, wenn ich bei Mette war, habe ich diese pubertäre Explosionskraft und den Witz, die in ihr stecken, sprachlich nachvollzogen. Und wenn ich bei Jo war, seinen recht aggressiven Wutpanzer, hinter dem sich viel Verletzung versteckt. Irgendwann hatte ich beide so verinnerlicht, dass ich relativ leicht zwischen ihnen hin und her wechseln konnte.

Mette und Jo, die beiden Hauptfiguren Deines neuen Romans, sind beide hochintelligent und wissen das auch, sie treffen sich in ihrem Selbstverständnis, die Dinge besser zu durchschauen als die meisten anderen Menschen. Gleichzeitig transportieren ihre scheinbar rationalen Äußerungen unheimlich starke, auch ungefilterte Emotionen wie Wut, Hass, Verzweiflung. Was hat Dich an dieser explosiven Mischung gereizt?
Mich fasziniert diese Kombination aus Intelligenz und unreflektierter Wut, weil sie eine ziemliche Zeitbombe ist. Wir lächeln oft über Verschwörungstheoretiker, Trump-Anhänger, Querdenker, Esoteriker und Co. und tun sie als leichtgläubig ab. Aber dahinter stecken oft sehr intelligente, sehr verzweifelte Menschen, die keinen gesunden Weg gefunden haben, mit ihrer Verzweiflung umzugehen. Deren Gefahrenpotenzial darf man nicht unterschätzen. Ich selbst kenne persönlich einen solchen Menschen, der seit Jahren mit großer strategischer Intelligenz sehr skurrile und zum Teil extrem toxische, gefährliche Theorien vertritt. Der Impuls, ihn verstehen zu wollen, war auch ein Antrieb, meinen Roman zu schreiben.

Auffallend in Deinem Text ist, dass es kein Gut und kein Böse gibt. Alle Figuren sind facettenreich und widersprüchlich. Ist das ein künstlerisches Credo?
Haha, nein, es entspricht einfach meinem Menschenbild. Menschen sind doch immer widersprüchlich und viel komplexer als Gut oder Böse, das macht sie gerade interessant. Ich suche mir gerne Figuren aus, die auf den ersten Blick vielleicht unsympathisch wirken und deren Verhalten undurchsichtig ist. Durchs Schreiben erkenne ich dann, was sie antreibt und wie vielschichtig sie sind. Das schafft Empathie. Mir geht es darum, mich Menschen anzunähern, die anders denken als ich, und Verständnis und Mitgefühl für sie aufzubauen - und mit mir dann hoffentlich auch die Leser*innen.

Muss ich als Leserin selbst auf Social Media unterwegs sein, um alle Nuancen Deines Romans zu durchdringen?
Ich bin selbst nicht auf Social Media unterwegs! Ich beobachte natürlich, was dort passiert, weil ich es faszinierend und wichtig finde, aber aktiv beteiligt bin ich nicht. Natürlich kann ich keinen Roman aus der Sicht einer 15-Jährigen in der Jetztzeit schreiben, ohne dass Social Media eine Rolle spielt. Aber um den Roman zu verstehen, muss man die Begriffe oder die Memes, die Mette und Jo verwenden, nicht kennen. Die meisten sind ziemlich selbsterklärend. Und der Rest darf auch gerne ein bisschen rätselhaft bleiben. Jede Generation hat ihre Geheimsprache und das finde ich schön.

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