5 Fragen an ... James Cheshire und Oliver Uberti

5 Fragen an ... James Cheshire und Oliver Uberti

Lieber James Cheshire , lieber Oliver Uberti, wenn wir einen Atlas öffnen, finden wir darin normalerweise Karten von Ländern, Flüssen, Bergen und anderen Dingen, die wir sehen können. Ihr habt allerdings entschieden, einen Atlas des Unsichtbaren zu kreieren – warum?
Wir waren beide erstaunt darüber, wie altmodisch traditionelle Atlanten heutzutage erscheinen. Kein einziger handelt von den drängendsten Themen des 21. Jahrhunderts oder schöpft aus den Unmengen von Daten, mit deren Hilfe sich die oft verborgenen Muster offenlegen lassen, die unser Leben heute prägen. Diese unsichtbaren Muster nehmen verschiedene Formen an: Manchmal übersehen wir Dinge, weil es uns nicht gelingt, einen Schritt zurückzutreten und sie aus der Entfernung zu betrachten. Städte wachsen direkt um uns herum, Umweltverschmutzung zieht mit der Luft über uns hinweg, die Erde erwärmt sich direkt unter unseren Füßen. Manchmal zeigt sich das Unsichtbare auch erst im Lauf der Zeit, wie bei der Gentrifizierung von Stadtvierteln oder dem Rückzug der Gletscher. Und manchmal, zum Beispiel bei historischen Ereignissen, werden einst sichtbare Dinge mit dem Verlust einer Generation unsichtbar. Die Macht der Daten liegt darin, dass sie die Zeit einfrieren können. Aber ähnlich wie bei Fotonegativen, die erst entwickelt werden müssen, zeigen sich die Muster, die in den Daten verborgen liegen, erst durch Karten und Grafiken. Deshalb haben wir ein ganzes Buch mit von uns eigens entwickelten Illustrationen gefüllt, um den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, herauszuzoomen, zu vergleichen, sich zu erinnern.

Euer Buch enthält Daten zu globalen DNA-Analysen, zum Klimawandel, zu religiösen Ritualen. Aber ihr begebt euch auch auf die Spur von Sklavenschiffen und Opfern der Shoah. Eure Daten sind unglaublich vielfältig – warum war es euch wichtig, eine solche weite Perspektive zu eröffnen?
Ein Großteil unserer Inspiration, eine solch breite Themenwelt zu erschließen, kam von zwei deutschen Pionieren: Alexander von Humboldt und Heinrich Berghaus. In der Mitte des 19. Jahrhunderts haben sie sich darangemacht, einen Atlas zu entwerfen, der eine Welt aus miteinander verbundenen Systemen zeigte, von der Bewegung von Meeresströmungen bis hin zur Ausbreitung von Krankheiten. Heute haben wir Daten zur Verfügung, von denen die beiden nur träumen konnten. Wir wollten den Leserinnen und Lesern zeigen, dass Daten nicht nur die Muster unserer Gegenwart offenbaren können – wie etwa Pendelbewegungen oder Umweltschäden -, sondern dass die Digitalisierung historischer Logbücher auch neues Licht auf die Vergangenheit werfen kann und dass wir anhand von Klimadaten die Zukunft vorausdeuten können. Durch die Diversität der Themen hält das Buch für jede Leserin und jeden Leser etwas bereit.

Was war das überraschendste Phänomen, das ihr mit eurer Methode sichtbar machen konntet?
James: Oh, da gab es so viele! Dass die Bevölkerung in China noch 1975 zu 83% auf dem Land lebte, während 2050 voraussichtlich 80% in den Städten leben werden. Dass Australien fast 400 indigene Territorien umfasst. Dass Singapur den mächtigsten Reisepass hat. Oder dass ein Großteil der Internetkommunikation, inklusive unserer Mails an euch bei Hanser, den Globus in Glasfaserkabeln umrundet, die nicht viel dicker als ein Finger sind!

Oliver: Wenn ich mich für ein Beispiel aus dem Buch entscheiden soll, dann würde ich das datenbasierte Modell nehmen, mit dessen Hilfe die Stadt Flint in Michigan ihre Wasserkrise gelöst hat. Wir zeigen anhand einer erdrückenden Folge von Karten, was passierte, als die führenden Politiker der Stadt auf die Daten hörten – und was geschah, als sie das nicht taten. Alternde Infrastrukturen sind auf der ganzen Welt ein Problem. Das sollten alle Politiker ernstnehmen. Es ist viel (!) billiger, in smarte, datengetriebene Modelle zu investieren, mit denen sich unterirdische Bleivorkommen orten lassen, als blindlings sämtliche Viertel einer Stadt aufzugraben. Und aus einer eher persönlichen Perspektive war ich besonders fasziniert davon, als wir ein Jahr lang die Fitbit-Daten meiner Frau auswerteten und überrascht feststellten, dass sie jede Nacht mehrfach aufwacht. Um acht Stunden Schlaf zu bekommen, muss sie also um neun ins Bett gehen …

James: Was mich sehr geschockt hat, war das Ausmaß der US-amerikanischen Bombardierung von Kambodscha während des Vietnamkriegs. Ich habe auch bisher keine Karte davon gesehen, die auch nur ansatzweise so detailliert war wie unsere. Außerdem war ich fasziniert davon zu sehen, wie sich die globale Schifffahrt mit der Zeit entwickelt hat, zurückreichend bis zu den digitalisierten Logbüchern aus dem 16. Jahrhundert. Auch die historischen Mäander des Mississippi mit Hilfe von Lidar-Daten sichtbar zu machen, fand ich spannend.

Euer erstes Buch bei Hanser folgte den Wegen der Tiere rund um den Globus, nun begebt ihr euch auf die Spuren von uns Menschen. Seht ihr eine Verbindung zwischen den beiden Themen?
Ja, da gibt es viele Überschneidungen. Im Grunde kann man den Schluss unseres letzten Buchs als Auftakt unseres neuen Buchs begreifen. In einem Epilog mit dem Titel „Die Wege der Menschen“ gingen wir der Frage nach, wie wissenschaftliche Methoden zur Untersuchung von Tierverhalten – etwa ihrer Migrationsbewegungen – auch für unser Verständnis des Menschen eine Rolle spielen können. Die Technologie, mit der man die Bewegungen von Tieren trackt, ist zum Beispiel der Technologie in unseren Handys ziemlich ähnlich. Im Atlas des Unsichtbaren zeigen wir etwa, wie Handydaten von Rettungskräften genutzt werden können, um Evakuierungen nach einem Hurrikan zu organisieren.

Gab es etwas Unsichtbares, das ihr nicht illustrieren und sichtbar machen konntet? Wo liegen die Grenzen eurer Methode?
Oliver: Unsere größte Limitierung war die Zeit! Es hat fünf Jahre gedauert, den Atlas des Unsichtbaren fertigzustellen. Wir haben noch viele weitere Themen in Erwägung gezogen, vom globalen Rüstungshandel über Waffengewalt bis hin zur Taxinutzung und zu Internettrollen. Letztlich mussten wir irgendwann einfach einen Punkt setzen, sonst wäre das Buch nie fertig geworden.

James: Immer wenn man mit zeitgenössischen Daten arbeitet – vor allem mit solchen, die Menschen betreffen – muss man vorsichtig sein, keine Informationen preiszugeben, die zu privat, zu enthüllend sind. Wir zeigen zum Beispiel nie die Bewegungen eines identifizierbaren Individuums. Am Ende des Buchs gehen wir noch einmal detailliert auf diese Frage ein, und liefern ein paar Beispiele, wie die Limitierungen unseres Ansatzes in Zukunft überwunden werden könnten.

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