5 Fragen an ... Hernan Diaz

5 Fragen an ... Hernan Diaz

Lieber Hernan Diaz, In der Ferne ist ein zutiefst ungewöhnlicher Western-Roman über einen jungen Mann, der sich mittellos in Kalifornien wiederfindet und auf der Suche nach seinem Bruder in den Osten reist. Man könnte sagen, dass es ein Buch über Einsamkeit und Fremdheit ist. Waren das die Themen, die Dir beim Schreiben des Romans wichtig waren?
Ja, das Buch ist ein Versuch, von extremer Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und Enge zu erzählen. Aber ich hatte nie die Absicht, einen rein philosophischen Roman zu schreiben. Vielmehr habe ich versucht, diese Gefühle im Rahmen eines Abenteuerromans zu erforschen. Der Held ist radikal verloren in Raum, Zeit und Sprache (er spricht kein Wort Englisch). Beim Schreiben habe ich mir die Frage gestellt: Ist jemand, der in einer solchen Situation steckt, ohne Sprachkenntnisse und von jeder menschlichen Institution abgeschnitten - überhaupt noch menschlich?

Auch wenn Dein Roman im Amerika des 19. Jahrhunderts spielt, ist er höchst aktuell, da er das Thema der Einwanderung behandelt. Wie hat sich Dein Blick auf das eigene Buch im Laufe der Zeit verändert?
Ich liebe die Literatur des 19. Jahrhunderts. Aber während des Schreibprozesses stellte ich fest, dass in meinem Stoff auch die Gelegenheit steckt, einen kritischen Moment in der Geschichte der Vereinigten Staaten zu analysieren, den Moment nämlich, in dem der Kapitalismus in Gang gesetzt wird. Dieser basierte auf territorialer Expansion, Völkermord, systematischer Ausbeutung der Natur, neuen Technologien, Einwanderung usw. Da der Protagonist während des größten Teils des Buches jedoch allein ist, erreichen ihn diese historischen Ereignisse entweder als heftige Schläge, die er kaum versteht, oder als ferne Wellen, die er kaum spürt.

Ich habe irgendwo gelesen, Du seist ein Western-Autor, der Waffen hassen würde. Würdest Du sagen, dass Dein Buch ein typischer Western-Roman ist? Was fasziniert Dich an diesem Genre?
Ich halte mich nicht für einen Western-Autor – aber ich hasse Waffen! Ich glaube nicht einmal, dass dieses Buch, streng genommen, ein Western ist. In meinem Roman gibt es keine Eisenbahnen, keine Zäune und kein Vieh. Das bedeutet vor allem, dass es keine Cowboys gibt. Und anstatt in den Westen zu gehen, versucht der Protagonist, in den Osten zu gelangen – auf einem kranken Pferd oder zu Fuß und größtenteils unbewaffnet.
Was ich am Western als Genre interessant finde, ist, dass er ein kraftvolles ideologisches Narrativ von der Geburt der Nation bietet – und dabei die ethnische Säuberung und unsere Gewalt gegenüber der Natur romantisiert. All dies sollte den Western zum "Great American Genre" machen. Und doch ist er inzwischen in Vergessenheit geraten. Mein Plan war es, das Genre wie ein Hausbesetzer einzunehmen und es von innen heraus neu zu erfinden. Und mich an einer Neuschreibung der amerikanischen Geschichte zu versuchen.

Eines der erstaunlichsten Dinge an Deinem Buch ist, dass man schon nach wenigen Seiten das Gefühl hat, sich in genau der gleichen Umgebung wie Dein Protagonist zu befinden. Wie hast Du Dir das Wissen über diese Zeit angeeignet?
In den Jahren, in denen ich an diesem Buch gearbeitet habe, habe ich fast ausschließlich Romane des neunzehnten Jahrhunderts gelesen. Außerdem habe ich Zugang zu fabelhaften Bibliotheken. Ich las die Reiseliteratur aus dieser Zeit, medizinische Handbücher, Goldminenführer, Bücher von Naturforschern usw. Es gibt aber noch eine weitere äußerst wichtige Komponente in dem Buch, nämlich die Philosophie des Transzendentalismus. Emerson ist für dieses Buch ebenso wichtig wie Melville.

Wie viel hat dieses Buch mit Deinem eigenen Leben und Deiner persönlichen Erfahrung zu tun?
Oh, ich betrachte dieses Buch als eine verschlüsselte Autobiographie – in gewisser Weise. Ich war mein ganzes Leben lang Ausländer. Ich wurde in Argentinien geboren, bin in Schweden aufgewachsen, habe in England gelebt und den größten Teil meines Lebens in den Vereinigten Staaten verbracht. Ich habe in jeder Sprache, die ich spreche, einen Akzent. Aber ich wollte nicht meine eigene Biografie ausbeuten und ein Memoir oder ein rein autobiographisches Buch schreiben. Ich habe das Gefühl, dass es in der Literatur im Moment eine Inflation des Selbst gibt. Meine persönliche Erfahrung ist mir nicht wichtiger als die Bücher, die ich beim Schreiben des Romans lese. Tatsächlich glaube ich, dass Literatur in erster Linie mit Literatur gemacht wird.

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