5 Fragen an ... Francisco Cantú

5 Fragen an ... Francisco Cantú

Lieber Francisco Cantú, Sie haben ein Selbstexperiment auf sich genommen, das beinahe die Grenzen dessen sprengt, was ein Mensch ertragen kann: Als Mitglied der US Border Patrol haben Sie Menschen aus der Wüste gerettet, aber Sie mussten sie auch deportieren. Sie haben unglaubliches Leid gesehen, und viele Menschen sind gestorben. Wann ist es Ihnen zum ersten Mal in den Sinn gekommen, sich der US Border Patrol anzuschließen?
Ich habe zum ersten Mal darüber nachgedacht, mich für die Border Patrol zu melden, als ich mich auf meinen Abschluss an der Universität vorbereitete, nachdem ich mich viele Jahre lang mit Immigration und Grenzfragen beschäftigt hatte. Ich war erfüllt von der Naivität und dem Idealismus, die typisch für viele Menschen in diesem Alter sind, und ich betrachtete die Border Patrol als eine Möglichkeit, mit eigenen Augen zu sehen, was tagein tagaus wirklich an der Grenze geschieht. Ich war besessen von der Grenze und wollte sie verstehen, tiefgehend, über das hinaus, was ich in Büchern und Vorlesungen gelernt hatte. Ich habe mir vorgestellt, dass ich eine Kraft des Guten sein könnte innerhalb der Border Patrol, dass ich die hässliche Realität irgendwie beobachten könnte, ohne mich an ihr beteiligen zu müssen. Ich habe mir vorgestellt, dass ich Lösungen finden würde für die unlösbaren Probleme der Grenze, dass ich einmal politischer Entscheidungsträger oder Anwalt für Migrationsfragen werden würde. Ich war voller Fragen, und ich dachte, dass die Arbeit für die Border Patrol mir irgendwie Antworten und Einsichten vermitteln würde, die anderen entgangen waren. Aber natürlich bin ich nur auf mehr Fragen gestoßen, und ich habe meine Arbeit zum Schluss überwältigter von der Komplexität der Grenze verlassen, als ich sie angetreten hatte. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass der einzige Weg, sich aufrichtig mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, mit allem, was ich gesehen und woran ich mich beteiligt hatte, das Schreiben ist.

In Ihrem Buch beschreiben sie lebhaft den Alltag an der Grenze. Sie haben sehr viele verschiedene Menschen getroffen in der Wüste. Welches Ereignis ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Das Ereignis, das den größten Eindruck bei mir hinterlassen hat, war, als ich eine Leiche in der Wüste gefunden habe. Es war ein Mann mittleren Alters, der die Grenze zusammen mit zwei Jungs aus seinem Dorf überquert hatte – mit seinem sechzehnjährigen Neffen und dessen neunzehnjährigem Freund, alle aus dem gleichen Dorf in Mexiko. Man hört diese Geschichten ständig, dass Menschen in der Wüste sterben. Aber die Leiche dieses Mannes mit meinen eigenen Augen zu sehen, war etwas, dass ich immer mit mir herumtragen werde. Ich kann mich noch immer an sein Gesicht erinnern, ich erinnere mich daran, wie sein Haar aussah, ich erinnere mich an die Ameisen, die über seinen Körper krabbelten. Und woran ich mich noch eindringlicher erinnere, ist, wie ich dem Neffen des Mannes und dessen Freund erklären musste, dass sie nicht beim Leichnam ihres Onkels würden bleiben können, dass sie seinen Leichnam nicht zurück in ihr Dorf bringen dürfen. Diesen beiden Jungs klarmachen zu müssen, dass wir sie unter Arrest stellen und in ein Abschiebelager schicken würden, dass der Leichnam einem Mediziner zur Untersuchung, dann dem Mexikanischen Konsulat und erst danach hoffentlich ihrer Familie übergeben würde – das war die Erfahrung, ein vollkommen inhumanes System erklären zu müssen.

Wurde der psychologische Aspekt Ihrer Arbeit leichter, als Sie in eine andere Stadt versetzt wurden, um verstärkt vom Büro aus zu arbeiten und die Grenze mit Kameras zu überwachen?
Der merkwürdige Teil dieser Arbeit, also der Arbeit als Intelligence Agent, war, dass ich in vielerlei Hinsicht mehr Distanz hatte zu der alltäglichen Gewalt, die mit der Arbeit draußen in der Wüste verbunden ist. Wenn ich „Gewalt“ sage, meine ich die Gewalt, die darin besteht, Menschen zu begegnen, die verzweifelt, verloren und oft an der Schwelle zum Tod sind. Die Gewalt, Menschen in Gewahrsam zu nehmen und zurück an Orte zu schicken, von denen sie unter Lebensgefahr geflohen sind. Diese Form der psychischen und physischen Gewalt war viel unmittelbarer als die Gefahr, auf Drogenschmuggler oder Kriminelle zu treffen, die mir wirklich gefährlich hätten werden können. Was ich sagen will, ist: Als Field Agent war ich vielmehr Teil der Gewalt, als dass ich selbst von Gewalt gegenüber meiner Person bedroht gewesen wäre. Aber in meinem neuen Bürojob gab es plötzlich eine Trennung, eine Distanz zwischen mir und alldem. Trotzdem bestand ein großer Teil meiner Arbeit als Intelligence Agent darin, über Gewalt zu lesen und mir brutale Bilder anzusehen – die Gewalt und Brutalität, die direkt auf der anderen Seite der Grenze passierte, die Gewalt der Drogenkartelle und der Mexikanischen Regierung, genau die Gewalt, vor der viele der Menschen, die die Grenze überqueren, zu fliehen versuchen. Ich habe jeden Tag Blutvergießen gesehen oder darüber gelesen, und daher habe ich nicht nur gezwungenermaßen mit einem immensen Ausmaß an Gewalt in Mexiko gerechnet, sondern ich habe auch gemerkt, dass ich abstumpfte, dass all das zur Normalität für mich wurde – in einer ähnlichen Art, wie es für so viele Menschen in Mexiko zur Normalität geworden ist. Und das war der Moment, in dem ich wirklich begonnen habe, um meine Seele zu fürchten. Ich hatte Angst, einen Punkt zu erreichen, an dem die Gewalt mich nicht länger erschüttert, und das hat sich angefühlt wie ein fundamentaler Verlust von Menschlichkeit.

Im letzten Teil Ihres Buchs lernen wir José kennen. Der Hausmeister, der Ihr Freund wird und der nach einem letzten Besuch bei seiner Mutter in Mexiko nicht mehr zurück in die USA einreisen darf, wo seine Frau und drei kleine Kinder auf ihn warten. Kann man es überhaupt ertragen, eine solche Tragödie zu sehen? Wie sind Sie damit umgegangen?
Josés Geschichte hat mir ein viel tieferes, viel verheerenderes und ein persönliches Verständnis von dem Ausmaß gegeben, in dem eine Grenze das Leben eines Menschen zerreißt. José hatte dreißig Jahre lang in den USA gelebt, seine Kinder sind hier geboren, sie sind US-Bürger. Seine Kinder haben nie in ihrem Leben eine Grenze überquert, aber in dem Moment, in dem José abgeschoben wurde, schob sich die Grenze plötzlich in ihr Leben. Das passiert jeden Tag in unserem Land, und es passiert jetzt in einem Ausmaß, das vielleicht größer ist als je zuvor. Wir hören ständig ganz allgemein von den Herausforderungen, vor denen illegale Einwanderer und ihre Familien stehen, aber zu sehen, wie genau das einem Freund passiert, jemandem, den ich kenne und der mir auf persönlicher Ebene sehr viel bedeutet, hat mein Verständnis des Problems grundlegend verändert. Ich kann mich daran erinnern, dass José mir erklärte, wie sehr er die Gesetze der USA respektiert. Er hat mir erzählt, dass die Gesetze, die Rechtsstaatlichkeit der Grund war, dass er seine Kinder hier und nicht in Mexiko aufziehen wollte. Aber er hat mir auch erklärt, dass er als Vater Familienwerte hat, die klar besagen, dass er seine Kinder nicht im Stich lassen darf, dass er nicht zulassen darf, dass sie ohne Vater aufwachsen. Und in seinen Augen standen diese Familienwerte vor den Gesetzen der USA, die ihm verboten, die Grenze zu überqueren. Ich denke, dass er es als einen Akt des zivilen Ungehorsams betrachtet hat, die Grenze zu überqueren, um wieder mit seiner Familie vereint zu sein, als einen notwendigen Akt der Liebe. Für mich ist es daher unmöglich, diesen Grenzübertritt als eine kriminelle Handlung zu bezeichnen, es ist unmöglich, José anzusehen und zu sagen, das ist ein Krimineller.

Was denken Sie macht die Relevanz Ihres Buchs in der Ära Trump aus?
Die Rhetorik, die wir in diesem Land zu den Themen Grenzschutz und Immigration zu hören bekommen, ist lauter und giftiger geworden, und die Entmenschlichung von Migranten, die damit einhergeht, findet nun offener und unverschämter statt als je zuvor. Die Gefahr und die Angst, in der Migranten jetzt täglich zu leben haben, ist sicherlich schlimmer als vorher, aber es ist auch wichtig sich klarzumachen, dass die Zustände, die uns gerade so alarmieren, bereits seit langer Zeit Realität sind und jetzt lediglich sichtbarer werden. Ein Effekt von Trumps Rhetorik ist, dass mehr Menschen den Anliegen von Migranten und der Situation an der südlichen Grenze Aufmerksamkeit schenken. Aber die Militarisierung der Grenze, der Umstand, dass wir die Landschaft regelrecht als Waffe nutzen, indem wir Strategien in Kraft setzen, die den Menschen keine andere Chance lassen, als den Grenzübertritt in den entlegensten Gegenden zu versuchen, wo sie wahrscheinlich sterben werden – all das passiert seit Jahrzehnten ohne einen nennenswerten Aufschrei von unseren Politikern, Medien oder unserer Gesellschaft als Ganzer. Wir erleben eine tödliche Krise an der Grenze, eine Krise der Deportation und des Auseinanderreißens von Familien, aber unsere Institutionen haben diese Krisen lange Zeit weiterlaufen lassen und aufrechterhalten, ohne dass wir uns entschieden hätten, hinzuschauen. In diesem Sinne ist das Buch relevant für die aktuelle Situation, aber es ist auch relevant für die Momente, die uns an diesen Punkt gebracht haben. Ich hoffe, dass dieses Buch Teil einer größeren Debatte wird, die uns endlich und tiefgehend darüber erschrecken lässt, wie unsere Gesellschaft und unsere Institutionen die Gewalt unserer Grenze und die Gewalt gegenüber Migranten normalisiert haben, so dass wir nicht in der Situation, in der wir uns gerade befinden, verharren. Oder weiterhin immer und immer wieder an denselben Punkt zurückkehren.

Newsletter
Newsletter