5 Fragen an ... Ernst Strouhal

5 Fragen an ... Ernst Strouhal

Lieber Ernst Strouhal, in Vier Schwestern geht es um eine beeindruckende Familie und ihre nicht weniger beeindruckende Geschichte, erzählt von einem direkten Nachkommen, einem bekannten Kulturhistoriker, von dem selbst Interessierte nicht wussten, dass sein Urgroßvater Moriz Benedikt war, der einflussreiche Herausgeber der Neuen Freien Presse, wenige wussten vom Schicksal seiner Großeltern, seiner eigenen Mutter und seinen Tanten, die aus Wien nach dem „Anschluss“ in alle Himmelsrichtungen flüchten mussten und … Was hat Sie dazu bewogen, die Erinnerung spät, aber doch sprechen zu lassen?
Na ja, beeindruckend sind für mich vor allem vier Personen, die vier Schwestern Benedikt, die Österreich 1938 verlassen mussten beziehungsweise vertrieben wurden. Gerda, die älteste, war 23 Jahre alt, die jüngste, Susi, war gerade einmal 13; sie haben sich in fremden Städten, in neuen Milieus und großteils in fremden Sprachen, ganz allein auf sich gestellt, durchgeschlagen: in New York, London, Stockholm, in Paris und in Zürich. In all der Zeit der Trennung – von der „Schwesternlosigkeit“ spricht Gerda – blieben sie brieflich in Kontakt, miteinander und mit den Eltern. Die Erinnerung ist nur zum geringsten Teil meine eigene, mir ging es vor allem darum, die Stimmen der Schwestern hörbar werden zu lassen, über ihre Briefe, Notizen, Tagebücher. Das war aus vielerlei persönlichen Gründen nicht einfach, und ich habe das Buch lange vor mir hergeschoben. Als eifriger Karl-Kraus- und Elias-Canetti-Leser wollte ich zunächst nicht viel über Moriz Benedikt, die Neue Freie Presse und seinen Sohn Ernst, meinen Großvater, nachdenken, überhaupt über Familie und Herkunft, aber die Geschichte der vier Frauen, die so unterschiedlich sind, wie man es sich nur denken kann, und die so gar keinem Klischee entsprechen, erschien mir erzählenswert, und ich musste entdecken, dass ich der einzige bin, der sie entlang der vielen Dokumente erzählen kann.

Der Erzählbogen des Buches reicht von der sprichwörtlichen Welt von Gestern bis zum Tod Ihrer Tante Susi im Jahr 2014, es geht darin um die Heimat, die fremd geworden ist, und die Fremde, die nicht zur Heimat wird, es geht um schwerwiegende persönliche und politische Differenzen und immer wieder um den Zusammenhalt innerhalb der Familie. Gab beziehungsweise gibt es Aufzeichnungen, wurde in Ihrer Familie viel erzählt, wie steht es um Ihre eigenen Erinnerungen?
Es wurde ständig enorm viel erzählt, und man musste sich durchsetzen, um zu Wort zu kommen. Das Kind, das ich einmal war, kann ein Lied davon singen. Ich denke, diese Familie war Teil einer für Wien nicht untypischen, narrativen Kultur, das heißt, dass eher auf Erzählungen als auf abstrakte Erklärung vertraut wurde, auf plötzlich aufblitzende Pointen und auf das Lachen – und dass man, wenn eine oder einer etwas erzählt hat, der Runde auch eine gute Geschichte schuldig ist. Alle vier Schwestern konnten hervorragend erzählen und waren großartige Briefstellerinnen. Sie haben ja auch viel gestritten und waren selten, auch vor dem Krieg, einer Meinung. So ist das geblieben. Ilse wurde Ärztin und war nach dem Februar 1934 kommunistischen Ideen verpflichtet, Susi war entschlossene Antikommunistin und Redakteurin beim amerikanischen Radio Free Europe in Paris, Gerda war eine klassische Liberale, Sozialarbeiterin in New York und hat Freud verehrt, Friedl schließlich war Schriftstellerin, alle ihre Romane sind „Orion“, Canetti, gewidmet, sie glaubte an die Kunst und an nichts sonst. Ihre Konflikte und politischen Divergenzen erzählen auch eine kleine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts – Harmonie war nie, aber Verbundenheit und Liebe.

Wie sind Sie zu dieser Fülle an Material gekommen und wie sind Sie damit in Hinblick auf das Buch umgegangen?
Tatsächlich, es war eine große Fülle an Material durchzusehen, rund 15.000 Seiten. Hauptsächlich handelt es sich um Briefe, die seit 1938 bis zuletzt zwischen New York, Wien, Zürich, Paris, Stockholm und London hin- und her geflitzt sind. Es sind teils überaus witzige, launige Nachrichten, teils verzweifelte, das Konvolut enthält mitunter Leerstellen, die aus anderen Briefen rekonstruiert werden müssen; manchmal sind die Briefschreiberinnen unzuverlässige Erzählerinnen, manchmal sind sie auch etwas beschwipst – viele Briefe wurden in den Nebenstunden oder in der Nacht verfasst. Die Dokumente stammen aus meinem eigenen Bestand, aus den Privatsammlungen meiner Verwandten in New York und Paris, aus der Sammlung von Johanna Canetti in Zürich und schließlich Nachlassen in Bibliotheken und öffentlich zugänglichen Archiven. Ich habe die Handschriften der Autorinnen erlernen müssen, ein brauchbares Archivsystem erstellt, um in dem Heuhaufen dann die Nadeln zu finden und wiederfinden zu können. Das hat gut drei Jahre gedauert, und ich war auf viel Hilfe und Unterstützung angewiesen, die ich auch bekommen habe. Was mich überrascht hat und nach wie vor fasziniert, ist die Materialität der Briefe und die sinnliche Qualität der Originalbriefe: die verschiedenen Handschriften der vier Schwestern, die unterschiedlichen Schreibwerkzeuge (vom Bleistift bis zu Schreibmaschinen mit unterschiedlichen Tastaturbelegungen), die verschiedenen Briefformate, Briefpapiere und schließlich die Kuverts mit Adressfeldern, Poststempeln und Briefmarken, die zum Teil erhalten sind.

Dreh- und Angelpunkt ist das Haus Ihrer Großeltern in der Himmelstraße 55 im Wiener Bezirk Grinzing, wo sich nicht nur das tout Vienne der Zwischenkriegszeit die Klinke in die Hand gab, sondern auch junge Schriftsteller wie Elias Canetti zu Gast sein durften, woraus sich lebenslange Beziehungen ergaben. Was, glauben Sie, war das Besondere dieses Ortes, dessen Magie sich wie ein roter Faden durch Ihr Buch zieht?Der Himmel 55, wie Susi das Haus der Eltern in ihren Erinnerungen nennt, war der Ort der Kindheit – eine keineswegs elegante, aber großzügige Villa mit Garten im damals noch nicht sonderlich fashionablen Grinzing. Die Eltern haben regelmäßig Gäste gehabt und große Abendessen veranstaltet mit Schriftstellerinnen und Künstlern, Musikern und Journalistinnen. Für die Schwestern war es ihre Heimat. Das Haus wurde 1939 arisiert, und erst sehr spät nach einem mühsamen, juristisch aufwändigen Verfahren restituiert. Im Moment der Rückgabe musste es sofort verkauft werden, da die Eltern in der schwedischen Emigration verarmt waren. Mit dem Himmel 55 war es dann vorbei. Entlang der Geschichte der Himmelstraße lässt sich auch ein Stück österreichischer Zeitgeschichte darstellen und der Verlust von Heimat, der ja immer mit dem Verlust der Topografie der Kindheit zu tun hat. Für die vier Schwestern war der Raub des Hauses eine Katastrophe, jede Zuflucht und jede Möglichkeit einer Rückkehr war damit verloren. Eingeladen zurückzukommen hat sie ja sowieso niemand, aber als „Opfer“ hat sich keine von ihnen gefühlt. Sie sind ja säkular erzogen worden. Dass sie nicht nur Grinzinger Kinder waren, sondern jüdisch, ist ihnen erst durch die Nazis wirklich bewusst geworden. Ilse hat nach dem Krieg scharf reagiert: „Ich lass mir doch von niemanden sagen, wer ich bin. Und schon gar nicht von Nazis.“ Aber ganz so einfach war die Sache dann nicht.

Wie sind Ihre Mutter und Ihre Tanten miteinander umgegangen, und wie mit ihren Eltern? Der Ton der Briefe untereinander changiert zwischen tiefer Vertrautheit und gelinde gesagt robuster Ansprache.
Briefeschreiben gehörte seit ihrer Kindheit zur täglichen Übung in der Familie. Beim Schreiben hatten sie in ihren hochgebildeten Großmüttern und Tanten wichtige weibliche Vorbilder, und sie konnten mit dem Medium Brief souverän spielen: mit Nähe und Distanz, mit schriftlich simuliertem Dialog und langem Monolog. Ja, und sie haben ihren einen schwesterlichen, eher schnoddrigen Stil entwickelt. „Du blöde Gans“, „Liebes Mutterschwein“ oder „Du geliebte Drecksau“ kann man als ironische Anrede lesen. Aber das gehörte im gewissen Sinn zum selbstbewussten, selbstbestimmten Lebensstil. Über ihre Schwester Friedl sagt Susanne, dass sie niemanden gekannt hat, der weniger Angst hatte als sie. „Keine Vorsicht, kein Bedenken, keine Angst“, charakterisiert sie die Schwester. Und meint wohl auch sich selbst und die anderen. So sind auch die Briefe: direkt, klar, meist witzig und unsentimental und immer liebevoll.

Interview: Herbert Ohrlinger

 

Newsletter
Newsletter