5 Fragen an ... Emily Ruskovich

5 Fragen an ... Emily Ruskovich

Liebe Emily Ruskovich, in Ihrem Buch erzählen Sie von einem unbegreiflichen Verbrechen: dem Mord einer Mutter am eigenen Kind. Wie kamen Sie dazu, eine solche Geschichte zu erzählen?
Als ich einmal mit meinen Eltern in den Bergen war und wir Feuerholz sammelten, überkam mich das Gefühl, dass an diesem Ort, an dem wir das Holz aufluden, etwas Schreckliches passiert war. Ich wusste nicht was. Ich wusste, dass es nichts mit mir zu tun hat und hatte trotzdem diese gruselige Ahnung, dass dem Ort eine Erinnerung innewohnte. Dieses starke Gefühl hat mich lange Zeit nicht losgelassen. Herauszufinden, was da passiert war, war gleichzeitig der Schreibprozess meines Romans.

In Ihrem Roman geht es um schmerzlichen Verlust, um Ungewissheiten, Leerstellen und Schuld. Können Sie etwas darüber erzählen, wie unterschiedlich Ihre Protagonisten mit diesen Dingen umgehen?
Jeder versucht seinen Weg zu finden und für sich herauszufinden, wie das Leben nach so einem Ereignis weitergehen kann. Während Wade langsam sein Gedächtnis verliert, versucht Ann die Erinnerungen für ihn zu bewahren, seine Familie in ihrem eigenen Gedächtnis zu behalten, obwohl sie selbst sie nie kennengelernt hat und die Erinnerungen alle so schmerzhaft sind. Aber sie hat das Gefühl, sie festhalten zu müssen, als ein Weg, sie in Ehren zu halten, trotz allem was passiert ist. Dagegen wird Jenny sich nie erlauben zu vergessen. Sie möchte leiden für das, was sie getan hat. Sie hält sich für unwürdig, auch nur die kleinste Freundlichkeit zu empfangen und hat bloß den Wunsch, im Gefängnis zu sterben. Sie zögert, die Freundschaft, die sich zwischen Elizabeth und ihr entwickelt, als solche zu verstehen, weil sie zögert, überhaupt etwas Gutes zu akzeptieren. Aber am Ende ist die Freundschaft beider Frauen das rettende Element in dieser Geschichte, ebenso wie das gegenseitige Verständnis, das Ann und Jenny jeder Wahrscheinlichkeit zum Trotz in einander finden. In diesem Sinne ist dieses Buch am Ende auch ein Roman über Hoffnung und Heilung und die Widerstandskraft des Menschlichen.

Die Charaktere in Ihrem Buch sind sehr lebendig und psychologisch so fein gezeichnet, so „echt“, dass man sich fragt: Hatten Sie reale Vorbilder für Ihre Figuren?
Ja, in jeder der Figuren steckt jemand, den ich liebe. In manchen Momenten sehe ich meinen Vater in Wade; ich sehe mich selbst in June; ich sehe meine Mutter sowohl in Ann als auch in Jenny, in ihren liebenswürdigsten, sanftesten Momenten. Im Fall von May habe ich am ehesten direkt über jemanden geschrieben. May hat sehr viel von meiner kleinen Schwester Mary. Ich habe das nicht beabsichtigt, aber ihre Kinderstimme war in mir so lebendig; sie hat ganz natürlich auf’s Papier gefunden.

Wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, dass Sie sehr genau wissen, wie es sich anfühlt, mit einer Person zusammenzuleben, die das Gedächtnis verliert, oder wie Menschen in Gefängnissen miteinander umgehen und was sich dort entwickeln kann. Wie haben Sie diese Dinge recherchiert?
Ich habe nicht viel recherchiert, als ich geschrieben habe. Ich habe mich beim Schreiben eher auf Instinkt, Gefühl und Erinnerung gestützt. Vor allem habe ich mir beim Schreiben alles so genau und intensiv vorgestellt, wie ich konnte, und dabei gehofft, dass es mir durch diese intensive Vorstellung gelingen würde, etwas zu erschaffen, das der Realität nahekommt. Ein paar Dinge darüber, wie ein Gefängnis betrieben wird, hat mir mein Vater verraten, der als Berater in einer Besserungsanstalt für junge Menschen gearbeitet hat. Und für kurze Zeit habe ich eine Autobiographie-Schreibwerkstatt in einem Männergefängnis geleitet. Aber ich habe nie ein Frauengefängnis von innen gesehen. Am fruchtbringendsten für die Recherche war es vielleicht, als mein Mann und ich zum Frauengefängnis in Pocatello, Idaho gefahren sind. Wir haben einfach nur auf dem Parkplatz im Auto gesessen und das unspektakuläre Gebäude angesehen, von dem wir wussten, dass darin so viel Schmerz und Sehnsucht, so viele Geschichten zu finden sind. Es hat mir das Herz zerrissen, die kleine Plastikrutsche im Hof zu sehen und mir vorzustellen, wie die Frauen hier mit ihren Kindern spielen, wenn sie zu Besuch sind, wie sie versuchen, ihnen ein paar schöne Stunden zu ermöglichen, fröhlich zu sein. Wir entdeckten, was die Frauen durch den Zaun sehen – die Salbeihügel und das Gebüsch, den malerischen Garten, den Freiwillige direkt davor pflegen, und wir sind einfach eine Zeit lang dort geblieben und haben uns vorgestellt, wie es wäre, nur diese eine Aussicht zu kennen, sodass dein ganzes Gefühl für die Welt von einem einzigen Fenster gerahmt, dein ganzes Leben von einem einzigen Verbrechen in der Vergangenheit definiert wird. Darüber habe ich schon seit ich sehr jung bin viel nachgedacht. Seit ich denken kann, habe ich mir oft und intensiv vorgestellt, wie es wäre, ins Gefängnis zu kommen und habe mich gefragt, ob ein Mensch es schaffen kann, sein Innenleben an einem solchen Ort allem zum Trotz zu bewahren.

Einer der schönsten Aspekte in Ihrem Roman sind die Beschreibungen der Natur und von Idaho. Wie wichtig sind der Ort und seine Landschaft für Ihr Schreiben und Ihr Leben?
Ja, die Landschaft spielt eine zentrale Rolle in meinem Roman. Sie ist nicht nur der Schauplatz; sie ist die Seele der Geschichte. Die Figuren und der Ort sind so sehr miteinander verwoben, dass ich sie in meinen Gedanken nicht voneinander abgrenzen kann, genauso wenig, wie ich mich selbst von dem Berg meiner Kindheit abgrenzen kann.

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