5 Fragen an ... Delia Owens

5 Fragen an ... Delia Owens

Delia Owens, worum geht es in Ihrem Debütroman?
Der Gesang der Flusskrebse ist eine Kriminalgeschichte, eine Liebesgeschichte und ein Gerichtsdrama, aber vor allem geht es um Eigenständigkeit, ums Überleben und darum, wie die Isolation menschliches Verhalten beeinflusst. Wir sind soziale Säugetiere, rein genetisch wollen wir zu eng verbundenen Gruppen wie Familien und Freundeskreisen dazugehören. Doch was passiert, wenn ein junges Mädchen – so wie Kya, die Heldin des Romans – sich ganz allein und ohne Anbindung an eine Gruppe wiederfindet? Natürlich fühlt sie sich einsam, bedroht, unsicher und unfähig. Kya verhält sich außerdem seltsam: Sie versteckt sich hinter Bäumen, wenn andere Menschen sich am Strand nähern, meidet das Dorf. Sie zieht sich tief in die Wildnis der Marsch zurück, weit weg von den Menschen, und lernt dabei direkt von der Natur. Diese Lektionen helfen ihr, zusammen mit dem instinktiven Verhalten, dass aus der Isolation entsteht, zu überleben und sich zu schützen. Mehr als das sogar: Aus ihrer Eigenständigkeit zieht sie so viel Selbstvertrauen, dass ihr Dinge gelingen, von denen sie nicht einmal zu träumen wagte. Der Roman befasst sich mit isolierten Individuen, mit ihrem von der Norm abweichenden Verhalten und damit, wie sehr wir uns verändern, wenn wir Zurückweisung durch andere erfahren. Allein und ausgeschlossen verhalten sich Menschen auf einmal so ähnlich wie die Urmenschen, die in den Savannen überlebten oder wie Menschen, die dort leben, „wo die Flusskrebse singen“.

Wie kann Ihre Hauptfigur, Kya Clark, die im Alter von zehn Jahren von ihrer Familie verlassen, von den Bewohnern der Kleinstadt zurückgewiesen und verachtet wird, nicht nur einfach überleben, sondern ein erfülltes Leben für sich aufbauen?
Kya ist zugleich ein kleines Mädchen wie jedes andere und eines von einer Million. Kya ist wie wir alle, sie steht für das, was wir sein können, wenn wir es müssen. Ich glaube von ganzem Herzen an sie. Wir alle können mehr schaffen, als wir uns vorzustellen wagen, sofern das Leben es erfordert. Ich habe mir Mühe gegeben, Kyas Überleben so realistisch und glaubwürdig wie möglich zu beschreiben. Die Geschichte musste unbedingt plausibel sein. Es ist Absicht, dass Pa noch so lange da ist, bis Kya zehn wird, ein Alter, in dem sie selbständig Nahrung und Feuerholz sammeln, kochen und mit dem Boot die Marsch und das Meer durchqueren kann. Und natürlich gelingt es ihr in dem Alter auch, wegzurennen und sich zu verstecken. Als sie also ganz alleine zurückbleibt, ist es durchaus möglich für sie, aus eigener Kraft zu überleben. Und wer in der Wildnis überleben kann – Feuer machen in strömendem Regen, im Dunklen den Weg finden –, glaubt wirklich an sich selbst. Aber wir dürfen nicht vergessen, Kya ist auch abenteuerlustig, intelligent und mutig. Und voller Liebe. Sobald sie mit anderen zusammen ist, treten ihre verborgenen Charakterzüge hervor.

Kya wächst in Einsamkeit und Isolation auf. Sie haben ebenfalls an sehr isolierten Orten gelebt. Hat Ihre Erfahrung als Forscherin in abgelegenen Gegenden des afrikanischen Kontinents die Figurenentwicklung von Kya beeinflusst?
Große Teile meines Erwachsenenlebens, über dreiundzwanzig Jahre, habe ich in extremer oder zumindest teilweiser Isolation verbracht. Sieben Jahre lang lebte ich zusammen mit einer anderen Person in der Kalahari Wüste, wir waren die einzigen zwei Bewohner eines Gebiets von der Größe Irlands (es gab ein paar nomadische Gruppen von Buschleuten im Süden, aber so weit von uns entfernt, dass wir sie nie zu Gesicht bekamen). Im Luangwa Nationalpark war mein Lager in einem einsamen Teil. Und selbst heute in Idaho sehe ich meistens nur ein- oder zweimal die Woche andere Leute (Anmerkung: Inzwischen ist Delia Owens nach North Carolina, an den Schauplatz ihres Romans gezogen). Meine Erfahrungen sind also ganz sicher in die Erschaffung von Kya eingeflossen. Ich weiß, was es bedeutet, alleine zu sein. Sich mit Pavianen und Hyänen anzufreunden, weil keine Freundinnen in der Nähe leben. Die Isolation kann dich verunsichern und ein Gefühl von Unzulänglichkeit erzeugen. Ich weiß, wie es ist, in die Stadt zu gehen und den Menschen auszuweichen, weil du dich nicht zugehörig fühlst. All das ist auch Kya: allein, unsicher, ungeschickt im Umgang mit Menschen, aber auch zugleich stark, ausdauernd, kenntnisreich und sehr mutig. Am Ende gibt ihr das Vertrauen, dass durch ihr selbständiges Überleben in der Natur entsteht, die Stärke in der menschlichen Welt zu reüssieren.

Im Roman wird die Küstenmarsch in North Carolina fast selbst zum Protagonisten. Warum haben Sie gerade dieses Setting gewählt?
Die Küstenmarsch in North Carolina und überhaupt Natur ist definitiv ein Protagonist des Buches. In einem Satz heißt es „Kya legte ihre Hand auf die atmende nasse Erde, und die Marsch wurde ihr zur Mutter“. Nachdem ihre Familie sie verlassen hat, kann Kya nur noch von der Natur etwas über das Leben lernen. Durch ihre Beobachtung der Krähen lernt Kya, Muscheln zu ernten. Unehrlichkeit begegnet ihr bei den Signalen der Glühwürmchen Loyalität und Freundschaft bei den Möwen.
Ich habe die Marsch ausgewählt, weil sie mir vertraut ist, als Kind bin ich mit meiner Mutter mit dem Kanu campen gegangen im Okefenokee Sumpf und an anderen Orten in der Wildnis. Ein anderer wichtiger Grund: Es wurde bisher nur sehr wenig über die historische Bevölkerung geschrieben, die seit über vierhundert Jahren in den ungezähmten Deltas und Ästuaren lebt. Eine Mischung aus meuternden Schiffsleuten, Schiffbrüchigen, Schuldnern und Flüchtigen, Ausreißern und befreiten Sklaven. Sie ignorierten die Regeln ihrer Zeit, ob britisch, amerikanisch oder die der Bundesstaaten, lebten von dem, was das Land abwarf und balgten sich wie Bisamratten über ihre abgesteckten Reviere. Kya wurde in den 1940ern geboren und wäre damit möglicherweise Teil der letzten echten Bevölkerung der Marsch, die über Generationen in ihrer eigenen Nation zwischen Land und Wasser gelebt haben. (Anmerkung: Auf keinen Fall möchte ich die Populationen der Native Americans vergessen, die dort noch länger als alle anderen, seit vielen hunderten Jahren lebten. Um sie geht es jedoch nicht in diesem Roman. Sie waren zivilisiert und lebten in strenger sozialer Ordnung, starken Familien und mit Regelwerken.) Ebenfalls für die Marsch als Setting spricht, es ist zwar ein wilder Ort, aber dennoch vorstellbar, dass Kya dort alleine überleben kann. Nahrung zum Sammeln gab es im Überfluss, das Klima ist mild, es gibt unzählige Verstecke. Und Gefährten wie Jumpin' und Mabel sind nicht allzu weit entfernt.

Und können Flusskrebse wirklich singen?
Rein wissenschaftlich-technisch können Flusskrebse nicht singen. Ich habe jedoch eigene Studien betrieben. Ich habe dabei Folgendes herausgefunden: Als erstes musst du – ganz alleine – ein einfaches Lager in der echten Wildnis aufschlagen. Also an einem Ort, weit weg von Straßen oder Dörfern. Kein Park, sondern ein abgelegenes, wildes Fleckchen Land voller irdischer Kreaturen. Bei Beginn der Dämmerung musst du tief in den Wald hineinlaufen. Dort stehst du ungeschützt und ganz alleine, während sich die Dunkelheit um dich legt. Wenn du fühlen kannst, wie der Planet unter deinen Füßen und die Bäume um dich herum sich bewegen, musst du mit offenen Ohren zuhören – und ich verspreche, du wirst die Flusskrebse singen hören. Und tatsächlich wird es ein ganzer Chor sein.

Aus dem Englischen von Ulrike v. Stenglin
Alle Rechte vorbehalten. © G. P. Putnam’s Sons, ein Imprint von Penguin Random House 2018

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