5 Fragen an ... Carole Angier

5 Fragen an ... Carole Angier

Liebe Carole Angier, Sie haben bereits vielfach ausgezeichnete Biografien von Jean Rhys und Primo Levi verfasst. Was zog Sie danach zu W.G. Sebald?
Nach Primo Levi, dem bedeutendsten Autor der Shoah, schien es so, als könne es nicht mehr weitergehen. Doch dann las ich Die Ausgewanderten und Austerlitz und sah, dass es in einer anderen Richtung weitergehen könnte: Zu W.G. Sebald, dem größten Autor von (sozusagen) der anderen Seite.

 

Haben die Arbeit an der Biografie und die vielen neuen Erkenntnisse, die Sie zum Leben Sebalds gewonnen haben, Ihre Lektüre seiner Werke verändert? Und wenn ja, in welcher Hinsicht?
Meine Forschungsarbeit hat meine Lektüre von Sebalds Werk weniger verändert, sondern vielmehr vertieft. Insbesondere Die Ausgewanderten und Austerlitz folgen dem erzählerischen Prinzip, dass man, um ein Ereignis zu verstehen, der Person zuhören muss, die es erlebt hat: und genau so verfuhr W.G. Sebald, der noch einmal die Geschichten der Menschen erzählte, die er kannte oder deren Erinnerungen und Biografien er gelesen hatte. Meine Forschungen zeigten also, dass die Trauer des Erzählers um seine Figuren – und um die Natur und ihre Kreaturen – keine Erfindung war, sondern Sebalds eigene Trauer. Kritiker, die ihm vorwerfen, er würde sich des literarischen Effekts wegen die Leiden anderer zu eigen machen, liegen einfach falsch.

 

Im Observer war zu lesen, dass es Ihnen gelungen sei, Sebald ernsthaft und durchaus auch kritisch in die Augen zu schauen, ohne dabei die Bewunderung für seine Literatur einzubüßen. Hat der Autor des Artikels Recht? Wie steht es um Ihre Bewunderung für Sebald?
Der Autor hat vollkommen recht. Primo Levi, über den ich vorher geschrieben hatte, war beinahe ein Heiliger, liebenswürdig und sanft zu allen, außer zu sich selbst. Sebald war kein Heiliger. Er stellte sein Werk über die Menschen, die er dafür benutzte und konnte sie rücksichtslos behandeln – eine Charakterschwäche, die man bei vielen Autoren findet, die aber kaum zur Empathie seines Werks passt. Er konnte freundlich und liebenswürdig sein, blieb dabei aber sehr reserviert, und wenn er Schmerzen hatte, was oft vorkam, konnte es passieren, dass er niemand anderen mehr wahrnahm. Diese Schwächen erklärt mein Buch, wie sich das für jede gute Biografie gehört, aber sie ändern nichts an meiner großen Bewunderung für sein Werk, und ich vertraue darauf, dass sie auch meine Leserschaft nicht beeinflussen.

 

Die für Sebalds Werk so typische Vermengung von Fiktion und Geschichte stand erst kürzlich im Zentrum literaturwissenschaftlicher Debatten. Darf Literatur – gerade auch solche, die sich der Schoah nähert –, so fragte man sich im Feuilleton, mit Fakt und Fiktion spielen? Muss, darf oder sollte man Sebalds Collagetechnik auch moralisch bewerten?
Mit dieser heiklen Frage kämpfe ich in meinem Buch. Zweifellos fügte Sebald in seine realen Lebensgeschichten Erfindungen ein – er dramatisiert sie, er verändert sie, er führt verschiedene Geschichten zu einer zusammen. Er wollte damit erreichen, dass die Menschen die Schrecken der Schoah genauso intensiv erfahren wir er selbst. Aber mit der Tatsache, dass seine Erzählungen letztlich Erfindungen sind, drängst sich die Frage auf, ob sie nicht jenen in die Hände spielen, die behaupten, dass alle Geschichten der Schoah Erfindungen seien. Das ist nicht passiert und es wird auch nicht passieren – Holocaust-Leugner brauchen keinen Sebald und sie lesen ihn auch nicht. Aber trotzdem steht die Frage im Raum und mein Buch kann sie nicht beantworten. Ich kann nur sagen, dass Sebalds Absichten über alle moralischen Zweifel erhaben sind. Er war in eine Art Falle geraten – nicht zum ersten Mal in seinem Leben.

 

W.G. Sebald zählt zu den einflussreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Dennoch sind gerade jüngere Leserinnen und Leser nicht immer vertraut mit seiner Arbeit. Welches Werk würden Sie Sebald-Neulingen zum Einstieg empfehlen und warum?
Ich rate immer, mit den Ausgewanderten zu beginnen. Es ist sein charakteristischstes Werk, in dem seine Technik, Fotografien mit Geschichten zu kombinieren, ihre stärkste Wirkung entfaltet. Für mich ist es auch das Buch, das mich am meisten bewegt: Alle seine vier großen Prosawerke sind bewegend, die anderen aber sind (noch) verzweifelter und schwieriger. In den Ausgewanderten findet sich auch die größten Schönheiten und der konzentrierteste Stil, an den nur noch Die Ringe des Saturn herankommen. Und schließlich setzt sich das Buch aus vier Erzählungen zusammen, so dass man es am einfachsten zur Seite legen kann, sollte man merken, dass einem Sebald wirklich nichts zu sagen hat.

 

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