5 Fragen an ... Anna Hope

5 Fragen an ... Anna Hope

Liebe Anna Hope, Der weiße Fels wird aus der Perspektive von vier verschiedenen Figuren erzählt. Die Rahmenhandlung bildet die Geschichte einer britischen Schriftstellerin. Wie viel Anna Hope steckt in dieser Figur?
Hinter dem Buch steht eine sehr persönliche Geschichte und die Schriftstellerin im Roman ist eine autofiktionale Figur. Mein Ex-Mann und ich haben sieben Jahre lang versucht, ein Kind zu bekommen. Er befasst sich mit Schamanismus und untersucht ihn aus der Perspektive westlicher Psychologie. Im Zuge seiner Forschung an der Universität war eine indigene Gruppe aus Mexiko zu Gast. Sie luden uns ein, bei ihrer Zeremonie um ein Kind zu bitten. Fünfzehn Monate später kam unsere Tochter zur Welt. Wir sollten daraufhin nach Mexiko reisen und als Dank am weißen Fels, der dem Roman seinen Namen gibt, ein Opfer bringen. Das haben wir gemacht. Der weiße Fels vor der Küste von Nayarit ist ein unglaublich aufgeladener Ort. Als wir dort waren, durchforstete ich einen ganzen Morgen lang das Internet zu seiner mythischen und tatsächlichen Geschichte. Er ist unter anderem ein heiliger Ort für verschiedene indigene Gruppen und war zugleich ein strategischer Punkt für die spanischen Kolonisatoren. Hierhin verschleppte man die Yoemem, als sie Anfang des 20. Jahrhunderts von ihrem angestammten Land vertrieben wurden. Und hier verbrachte Jim Morrison ein Wochenende auf der Flucht vor sich selbst. Der weiße Fels schien mir geradezu einzufordern, dass über ihn geschrieben wird.

Im Buch – und in Ihrer eigenen Geschichte – treffen zwei sehr gegensätzliche Welten aufeinander: die Welt des Mythos, des Schamanismus und der Rituale mit der atheistischen Vernunftwelt unserer westlichen Gesellschaft. Wie kommen diese Sphären zusammen?
Das ist eine der Hauptfragen, die mich beim Schreiben interessiert haben: die Grauzonen zwischen diesen Welten. Wir wurden aus unserem normalen Leben in London in eine mythische Landschaft versetzt. Dadurch dachte ich viel darüber nach, inwiefern diese Begegnung angemessen war, was für ein Recht ich darauf hatte. Es gibt heutzutage ein großes Interesse an nichtwestlicher traditioneller Medizin und Pflanzenheilkunde. Aber dieses Interesse birgt stets die Gefahr der Appropriation und Ausbeutung. Und dann passiert mir das! Die Begegnung mit dieser indigenen Gruppe hatte etwas so Pragmatisches: Es ist eine Kultur der Reziprozität – wenn man um etwas bittet und diese Bitte geht in Erfüllung, muss man dafür danken, etwas zurückgeben. Ich trug also meine Fragen um Appropriation und Ausbeutung mit mir herum und fragte mich gleichzeitig: Bin ich überhaupt besser? Schließlich komme ich als Autorin, die über diese Erfahrung schreiben möchte, die etwas verlangt. Spiegle ich damit nicht die spanischen Kolonisatoren? Darf ich diese Geschichten erzählen? Es gibt darauf glaube ich keine leichten Antworten.

Sie haben sich trotzdem entschieden, diese Geschichten zu erzählen. Was hat Sie darin bestärkt?
Ich habe mir Hilfe geholt. Ich wusste, ich brauche eine Art Erlaubnis, um mit der Stimme eines indigenen Mädchens zu schreiben. Das bedeutet nicht, dass weiße Autor:innen in solchen Fällen grundsätzlich eine Erlaubnis brauchen, das glaube ich nicht – aber ich fühlte dieses Bedürfnis sehr deutlich. Ich schrieb einen ersten Entwurf, der mir in Ordnung schien, aber wenig lebendig. Damit klopfte ich dann an viele Türen, bis ich David Shorter von der UCLA fand, der seit Jahrzehnten mit den Yaqui bzw. Yoemem arbeitet, der indigenen Gruppe, um die es im Roman geht. Er stellte mir auch einen Schriftsteller vor, Felipe Molina, der selbst zu dieser Gruppe gehört. Die Gespräche mit ihm und seine Anmerkungen zu meinem Text haben mir unglaublich geholfen. Er war es, der mich bat, den selbstgewählten Namen Yoeme zu verwenden statt der gängigen Fremdbezeichnung Yaqui. Und er erzählte mir, dass mein Text auch die Geschichte seiner Tante ist. Das war für mich letztendlich die Erlaubnis, die ich gebraucht hatte.

Was macht das Buch mit seinen vier Geschichten zu einem Ganzen?
Meine Hauptfrage war: Wie sind wir an diesen Punkt gekommen, in diese Situation, diese Welt, wie sie jetzt ist. Am weißen Fels schien sich alles zu überlagern. Ich wusste zu Beginn nicht, wie eng die Biographie von Jim Morrison mit dem Kolonialismus zusammenhängt – sein Vater war seinerzeit der jüngste Admiral in der US-Marine und spielte eine wichtige Rolle im Vietnamkrieg. Jim Morrisons Geschichte, die eines jungen Mannes, der den amerikanischen Imperialismus infrage stellt, verbindet sich am weißen Fels mit der Geschichte der spanischen Kolonisatoren, die von dort aus Kalifornien eroberten und die indigene Bevölkerung Mexikos versklavten. Diese Geschichten über unseren Umgang mit Kolonialismus, Ausbeutung und vermeintlich überlegenem westlichem Denken kommen hier zusammen. Und in der Mitte dieser weiße Fels, solide, beständig, unverändert.

Alle Figuren des Romans sind mit der Zerstörung ihrer Welt, so wie sie sie kennen, konfrontiert. Was können wir von diesen Figuren lernen? Was gibt Ihnen selbst Hoffnung?
Ich war eine Zeitlang geradezu gelähmt vor Schrecken und Furcht angesichts der Klimakatastrophe und der Untätigkeit der Politik. Ich begann dann, mich bei Extinction Rebellion als Aktivistin zu engagieren. Aber so viele Fragen blieben da offen: Es geht nicht nur um die Bekämpfung des CO2, sondern um unseren Umgang mit dem Planeten überhaupt. Wessen Gesellschaft ist in der Krise, wessen Welt wollen wir retten? Ich glaube nicht, das die Industriegesellschaft uns von den Folgen der Industriegesellschaft befreien kann.
Die Begegnung mit den Yoemem gab mir ein Stück weit Hoffnung. Ich hatte eine Szene geschrieben, in der Maria-Luisa, die Schwester der indigenen Hauptfigur, versucht, sich das Leben zu nehmen. David [Shorter] und Felipe [Molina] haben mir das ausgeredet. Suizid ist für die Yoemem kein Weg – im Gegenteil, allein die Widerstandsfähigkeit zählt. Die Yoemem haben eine jahrhundertelange Geschichte des Widerstands. Sie sind immer noch hier, mit ihren Bräuchen und Ritualen, obwohl man mehrfach versucht hat, sie auszulöschen. Das ist es, was mir Hoffnung gibt. Und das hat mich im Schreiben bestärkt: Geschichtenerzählen als eine Form der Widerständigkeit!

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