5 Fragen an ... Almudena Grandes

5 Fragen an ... Almudena Grandes

Liebe Almudena Grandes, Kleine Helden ist ein Madrid-Roman. Was macht diese Stadt aus – damals und heute?
Madrid ist eine widerstandsfähige Stadt, die sich in den schlechten und den noch schlechteren Momenten mit einer fast wilden Entschlossenheit an das Leben klammert, eine Stadt mit der erstaunlichen Fähigkeit, aus der eigenen Asche wiederaufzuerstehen. Trotz ihrer Fehler, die sie zweifelsohne hat, überwiegt diese Stärke, die auch etwas zu tun hat mit der Geschwindigkeit, der Bewegung einer Stadt, die nie stillsteht. Madrid verändert sich ständig und bewahrt doch seine Gestalt, klammert sich abseits aller Höhen und Tiefen mit einem unerbittlichen Willen an seine Persönlichkeit. Das ist das wesentliche Merkmal der Identität dieser Stadt.

Sind die Protagonisten dieses Romans „kleine Helden“?
Das hängt davon ab, wie man Heldenmut definiert. Die Helden, die mir gefallen, die ich verehre, sind eher ungewöhnliche. Sie haben Angst, sie irren sich, sie haben Widersprüche und vor allem sind sie nicht zum Heldentum berufen, sie sind Helden durch Zufall. Ich spreche von ganz gewöhnlichen Leuten, die sich in einem bestimmten Moment entscheiden zu handeln, aus Gründen, die ebenfalls ganz gewöhnlich sind wie die Liebe, die Freundschaft, die Treue … In diesem Sinne scheinen mir einige Charaktere aus meinem Roman sehr wohl heldenhaft zu sein, aber nicht klein. Ich glaube, es gibt keine Heldentat, die bewundernswerter, großmütiger, größer wäre, als mit Würde aus einer Niederlage hervorzugehen. Dies ist die kleine oder große Heldentat, von der dieses Buch handelt.

In Ihrem Roman beschreiben Sie die heutige Situation in Spanien. Könnte man das auch als Ausblick auf die Zukunft verstehen? Und welche Bedeutung haben die kleinen Helden für die Gegenwart und Zukunft Spaniens?
Die Situation in Spanien ist jetzt besser, als sie sich im Roman darstellt, um genau zu sein dank der unablässigen Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die gegen jede einzelne Kürzungsmaßnahme der Regierung Rajoy auf die Straße gegangen ist, ohne Ausnahme und ohne dessen überdrüssig zu werden. Die gemeinsame Mobilmachung des Gesundheitspersonals und derer, die das öffentliche Gesundheitswesen in Anspruch nehmen, konnte die Privatisierung einiger Madrider Krankenhäuser – wie im Buch beschrieben – stoppen. Die anhaltenden Proteste führten dazu, dass sich diese in verschiedenen Teilgruppen organisierten, die als sogenannte Mareas (marea = dt. Flut) bekannt wurden, jede mit einer Farbe: die Marea Verde hatte sich die Verteidigung des öffentlichen Bildungssystems auf die Fahnen geschrieben, die Marea Blanca die des Gesundheitswesens, die Marea Naranja trat für die Verteidigung der sozialen Dienste ein, die Marea Negra für die des öffentlichen Rundfunks … Einmal im Monat schlossen sich alle Mareas für eine gemeinsame Kundgebung zusammen. Einen Tag in der Woche hat jede Marea für ihre Sache demonstriert. Und sie sind dessen nicht überdrüssig geworden. Diese Haltung, die aus der als 15-M bekannt gewordenen Bewegung hervorging, wird aktuell zum Beispiel durch die Rentner, die auf die Straße gehen, aufrechterhalten, und der Internationale Frauentag am 8. März wurde zu einem Tag des Kampfes für den Feminismus, in dieser Form beispiellos und einmalig in Europa. Das alles hat die Regierung Rajoy über die Jahre unterhöhlt und dazu beigetragen, dass sie stürzte. Die neue fortschrittliche Regierung von Sánchez hat eine gewaltige Verpflichtung angesichts all dieser Streiks.

Die Solidarität der Leute im Roman ist wunderbar – aber ist sie nicht auch wirklichkeitsfern?
Wahrscheinlich scheint das in Deutschland, das immer ein reiches Land gewesen ist, eher wirklichkeitsfern. Aber in Spanien, das immer ein armes Land gewesen ist, auch wenn uns im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erzählt wurde, dass wir nun für immer reich sein würden, ließen die Krise und all das Leid, das mit ihr einherging, die Solidarität auf bemerkenswerte Weise hervortreten; es erinnerte an Situationen, wie sie sich unter der Franco-Diktatur ereigneten. Für viele Spanier war es ganz offensichtlich, dass die Krise in Wirklichkeit ein Betrug war, sie empörten sich, dass man sich freikaufte mit öffentlichen Geldern, dem Geld aller, und zwar bei denselben Banken, die bei ihren Kunden, die ihre Hypotheken nicht bezahlen konnten, gnadenlos die Zwangsräumung durchzogen. So wurde die Solidarität zu einer Art Kampf, einem Kanal für die Wut, die Empörung. Die Leute halfen, um diejenigen zu unterstützen, die ärmer waren, aber auch, weil es gleichzeitig eine Form war, der Regierung zu widersprechen, gegen die Kürzungen anzukämpfen, lautstark klarzumachen, dass wir nicht untergehen würden, weil wir es einfach nicht wollten. In den schlimmeren Momenten der Krise war die Solidarität eine Form des Kampfes, des politischen Widerstands. Viele Leute, die nicht von Schwierigkeiten überrollt wurden, die nicht ihre Arbeit verloren hatten und auch keine arbeitslosen Kinder hatten, machten viel mehr, als Geld zu geben. Sie stellten sich der Polizei gegenüber, stoppten Zwangsräumungen, sammelten Unterschriften auf der Straße. Die Feuerwehrleute, die verbeamtet sind und am Ende des Monats ein garantiertes Gehalt bekommen, weigerten sich einzuschreiten, wenn es darum ging, Familien aus ihren Häusern zu werfen. Denn all diese Leute wussten, es war gelogen, dass wir Spanier verschwenderisch gewesen waren, und sie wussten, wir verdienten nicht, was mit uns geschah. Es mag wirklichkeitsfern anmuten, aber es war zweifelsohne die Realität.

Der Titel des spanischen Originals lautet Los besos en el pan (Dt.: Die Küsse auf dem Brot). Können Sie Ihren deutschen Lesern diesen Titel erklären?
Als ich klein war, brachte man mir bei, das Brot zu küssen, bevor man es in den Mülleimer warf. Ich dachte, das wäre ein Volksglaube, aber als dann die Krise begann, fiel mir auf, dass es um viel mehr ging. Es war ein Lob auf das Essen, das übrig blieb, ein Akt der Erinnerung daran, wie viel Essen nach dem Krieg gefehlt hatte, und außerdem war es eine Geste des Respekts. Daraufhin verstand ich, dass die Spanier des 21. Jahrhunderts ein überliefertes Erbe verloren hatten, das man als die Kultur der Armut bezeichnen könnte. Denn unsere Vorfahren waren sehr arm gewesen, aber sie verstanden es, mit Würde arm zu sein, ohne zu leiden, ohne sich zu erniedrigen, ohne je aufzugeben. Für sie war die Armut das Leben, und gegen sie zu kämpfen war der Sinn des Lebens, aber dieser Kampf schloss nicht die Hoffnung aus, und auch nicht die Freude, die immer eine Tugend der Kämpfenden ist. Als ich das Buch schrieb, dachte ich, die beste Waffe, die wir finden könnten, um aus dieser Krise herauszukommen, wäre es, jenen Geist wiederzubeleben, die alte Würde, die verloren gegangen ist. Und um zu betonen, dass ich mir wünschen würde, dass mein Roman nicht nur als Geschichte der Gegenwart gelesen wird, sondern auch als Rückforderung dieser Kultur der Armut, habe ich ihm den Titel Los besos en el pan gegeben.


Aus dem Spanischen von Stella Schossow

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