5 Fragen an ... Afonso Reis Cabral

5 Fragen an ... Afonso Reis Cabral

Lieber Herr Reis Cabral, wie fühlt es sich an, im Alter von 29 den renommiertesten Literaturpreis Portugals erhalten zu haben?
Als ich den Anruf bekam, hatte ich ein paar Sekunden den Eindruck im Paradies oder Nirwana zu sein. Aber nichts bleibt ewig. Es gibt eine andere Art von Freude, die viel erfüllender und auch dauerhaft ist. Für mich ist Schreiben eine Form von Traurigkeit, die sich mit dem Gefühl von Glück einhergeht. Dazu gehört auch eine gewisse Härte, viele viele Augenblicke, ja manchmal sogar Monate, in denen es einem unmöglich erscheint, weiterzuschreiben. Steinbeck sagte einmal in einem Brief: „Ein guter Schriftsteller arbeitet immer am Unmöglichen“. Sich dem Unmöglichen zu stellen, ist ein Kampf, und in diesem Kampf ist auch Leben. Ich suche die Freude an diesem Kampf. Noch eine letzte Anmerkung zum Alter: Ich schreibe, seit ich 9 Jahre alt bin. 29 kommt mir plötzlich so alt vor.

Wie kommt es, dass Sie in Ihrem Roman Aber wir lieben dich über den realen Fall Gisberta geschrieben haben – und was an der Geschichte ist fiktiv?
Mein Instinkt hat für mich entschieden. Ich lag nachts im Bett und scrollte durch meinen Facebook-Feed, als ich auf einen Artikel über den Fall Gisberta stieß, der sich 2006 in Porto, also zehn Jahr zuvor, ereignet hatte. Ich weiß noch, dass mich das damals schockierte, genauso wie die ganze Öffentlichkeit. Gisberta, eine trans Frau, litt an verschiedenen Krankheiten, was dazu führte, dass sie sich in einem verlassenen Gebäude versteckte. Dort fand sie eine Gruppe von drei Jungs, die in einer staatlichen Einrichtung für schwererziehbare Minderjährige lebten. Während einiger Wochen kümmerten sie sich um sie, gaben ihr zu essen und zu trinken, sprachen mit ihr. Aber die Gruppe wurde größer, die Machtverhältnisse untereinander gerieten aus dem Gleichgewicht, und dieselben Jungs, die Gisberta geholfen hatten, trugen schließlich zu ihrem Tod bei. Der reale Fall brachte eine Auseinandersetzung mit Themen wie Freundschaft, soziale Ausgrenzung, Liebe, Erwachsenwerden und so weiter mit sich. Ich wollte den realen Fall als Hintergrund für eine psychologische Studie verwenden und auch eine Lücke in der Geschichte füllen. Was könnte passiert sein, um diese Art beginnende Freundschaft zwischen den drei Jungen und Gisberta so drastisch kippen zu lassen? Zwischen dem Anfangsmoment und dem letzten Moment der Aggression? Wie viele andere Aspekte des Romans ist das Fiktion.

Zwischen Gisberta und Rafa, einem der drei Jungs, entsteht eine besondere Beziehung. Ist es Freundschaft, Solidarität, Anziehung – oder wie würden Sie sie beschreiben?
Ich würde von Bedürfnis sprechen. Rafa, der zwölfjährige Erzähler meines Buchs, sehnt sich nach Erlösung. Abgesehen von den Freunden, die mit ihm in der Einrichtung leben, ist er in einem kritischen Alter völlig allein. Er muss Zuneigung lernen; er muss sich um jemand anderen kümmern. Zuerst kümmert er sich um das kaputte und zurückgelassene Fahrrad. Dann versucht er durch Gisberta, seine eigenen Unzulänglichkeiten zu beheben. Indem er ihr hilft, konnte er auch sich selbst helfen. Und ich glaube, dass er in Gisberta einen Mutterersatz sucht, aber das bringt viele Unsicherheiten, soziale Vorurteile und so weiter mit sich. Gleichzeitig ist die Beziehung wegen ihrer Zerbrechlichkeit in Gefahr. Beide sind auf ihre Weise von der Gesellschaft ausgeschlossen. Gisberta wegen ihrer Vergangenheit und ihres Zustands, Rafa wegen seiner Gegenwart und seiner Zukunft. Das spiegelt sich auch in vielen Schauplätzen wieder. Die Handlung findet am Rande der Stadt statt, in oder um verlassene Gebäude herum. Schließlich prallen diese zwei Peripherien aneinander.

Wie haben Sie für den Roman recherchiert – über den Fall selbst, über die Persönlichkeit von Gisberta?
Der Fall selbst war mir fremd. Nicht nur das Leben und der Zustand von Gisberta, sondern auch die Jungs in der Einrichtung. Ich musste viel recherchieren, ging in das verlassene Gebäude, in dem sich alles abgespielt hatte, interviewte einige von Gisbertas trans Freundinnen, sah nach, wie das Wetter in jenen Wochen genau war, und schaffte es sogar, die letzte bekannte Wohnung zu betreten, in der Gisberta gewohnt hatte. Gleichzeitig war es unerlässlich, Bücher und wissenschaftliche Abhandlungen über staatliche Institutionen, Zeugenaussagen von trans Menschen zu lesen. Dieser ganze Aufwand brachte mir Gisbertas Erfahrung näher und ermöglichte es mir erst, zu schreiben. Trotzdem beschloss ich, die Jungen, die an dem realen Fall beteiligt waren, nicht zu kontaktieren. Die Stimme des Erzählers sollte losgelöst sein, völlig fiktional, nicht von der Erfahrung eines anderen bestimmt. Und ich glaube, wir können gar nicht von "der Persönlichkeit von Gisberta" sprechen. Das ist nicht "die echte" Gisberta in dem Buch. Es ist eine fiktionale Figur, obwohl sie auf realen Ereignissen beruht. Mir war klar, dass ich ein gewisses Risiko einging, nämlich indem ich den Erzähler Rafa schuf, der in alle Geschehnisse involviert ist. Den Tätern eine Stimme zu geben kann heikel sein. Aber das ist die Seite der Moral, nicht die der Literatur. Die Literatur handelt auch von der dunklen Seite des Lebens. Literatur kann und sollte die Konflikte im Leben, die Extreme des Lebens aufzeigen. Die moralische Lektion kann der Leser sich selbst überlegen. Ich glaube außerdem nicht, dass die Ansicht des Autors für den Inhalt des Romans relevant sein sollte. Soweit ich weiß, wurde ich nicht von trans Menschen kritisiert, aber viele hatten Probleme mit dem Blickwinkel, den ich gewählt hatte, um die Geschichte zu erzählen. Und ich wurde auch kritisiert, weil ich ein Buch geschrieben habe, das sehr weit von meiner eigenen Erfahrung ist. Das ist wohl der Zeitgeist.

Welcher Kommentar zu Ihrem Roman hat Sie am meisten berührt?
Das war kein Kommentar. Es war ein Moment, den ich beobachtet habe: Eines Tages fiel mir in einem Park ein kleines Mädchen auf, das einer älteren Frau mein Buch vorlas. Das Mädchen hatte eine schöne Stimme, die Augen der alten Frau schauten ins Nichts. Meine Worte bewegten sich zwischen ihnen. Meine Worte waren irgendwie nicht mehr meine Worte.

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