5 Fragen an ...Affinity Konar

5 Fragen an ...Affinity Konar

Affinity, Ihr Roman Mischling handelt von den polnisch-jüdischen Zwillingsschwestern Perle und Stasia, die 1944 nach Auschwitz deportiert werden und sich im Albtraum von Josef Mengeles grausamen Menschenversuchen wiederfinden. Wie kam es zu diesem Thema?
Ich hatte immer schon das Gefühl, dass meine Liebe zur Literatur im Kern um Geschichten und Dichtung der Shoah kreist. Die Tatsache, dass meine Familie im Jahr 1932 Polen verlassen konnte und in den USA Zuflucht fand, war immer im Hintergrund meines kindlichen Bewusstseins – wie eine ganz eigene Art von Schuldgefühl. Irgendwie habe ich mit dieser Schuld verhandelt, indem ich alles las, was ich über die Konzentrationslager finden konnte, über Künstler, die daran verloren- oder daraus hervorgegangen sind, über den jüdischen Untergrund und andere Widerstandsbewegungen. Während ich aufwuchs, absorbierte ich also diese Ereignisse, und ich kann eigentlich gar nicht so genau sagen, wann genau ich zum ersten Mal damit in Berührung kam.
Mit sechzehn habe ich zeitweise die Schule abgebrochen, und damals habe ich meine autodidaktischen Studien sehr bewusst vertieft. Hineingezogen wurde ich durch Primo Levi und Paul Celan, und eines Tages stieß ich auf Lucette Lagnados Buch „Children of the Flames“. Was den Zwillingen damals widerfahren war, ist unvorstellbar: So wenige überlebten, und denen, die es schafften, stand ein undenkbarer Kampf bevor. Einige, wie Eva Mozes Kor, legen bis heute Zeugnis ab, weil sie entschlossen sind, dieses Vermächtnis nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Ich kann mir keine größere Tapferkeit vorstellen – und außerdem keinen größeren Verbrecher als Mengele, eine Gestalt, die das Undenkbare verkörpert. Ich glaube nicht, dass man einen Menschen wie ihn verstehen kann; seine Verbrechen waren so durchdacht, so raffiniert. Als Kind betete ich Ärzte an, sie waren Götter in meinen Augen, Heilige – und ich bin sicher, dass dieser Umstand zumindest unterschwellig das Grauen noch vergrößerte, dem diese Kinder ausgesetzt waren. Allein der Gedanke daran hat mir einen neuen Begriff von Leiden gegeben. Und die Tatsache, dass viele, die Mengele überlebten, in eine Welt zurückkehrten, die ihnen immer noch feindlich gesinnt war, als Kinder, die entmenschlicht worden waren – das definierte für mich neu, wie ein Leben nach einem schweren Trauma aussehen könnte.

Können Sie uns allgemein noch etwas über deine Recherchen erzählen? Wie würden Sie Primo Levis Einfluss beschreiben?
Da ich anfangs gar nicht die Absicht hatte, einen Roman zu schreiben, hat sich der Rechercheprozess sozusagen ganz von selbst ergeben. Eigentlich habe ich damals nur versucht, mir über bestimmte Dinge klar zu werden, mehr oder weniger nur das Gespräch zwischen den Zwillingsschwestern aufzuschreiben, das mir seit dem Lesen ihrer Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Damit hat es vor ungefähr neun Jahren „angefangen“; ich schrieb aber nur für mich, im Privaten, tauchte sozusagen ganz darin ein, und das fühlte sich eher wie ein Teil meines Alltags an als wie Recherche.
Ein Großteil des Materials, auf das ich mich beim Schreiben stützte, sind tatsächlich reine Augenzeugenberichte und Erinnerungsbücher. Anfangs verwendete ich viel Zeit darauf, über Mengele selbst zu recherchieren, aber irgendwann zoomte ich sozusagen von seiner Person heraus, um einen größeren Blickwinkel auf das KZ zu versuchen, der es mir später vielleicht ermöglichen würde, mich allein auf die Zwillinge zu konzentrieren. Daher interessierte ich mich für eine ganze Reihe von Perspektiven: Wächter, Kapos, Sonderkommando, Kinder, Mitglieder des Orchesters und des jüdischen Widerstands, jüdische Ärzte und Krankenschwestern, die gezwungen worden waren, mit Mengele zu arbeiten. Und auch wenn vieles davon es nie bis in die letzte Fassung des Romans geschafft hat, ist es beim Schreiben mit eingeflossen.
Ich setzte mich auch intensiv mit Kunst und Poesie auseinander, die aus den KZs stammten; dieser Blickwinkel war ebenfalls sehr wichtig, weil das Buch den menschlichen Instinkt anspricht, Verzweiflung mit dem Vertrauen auf das, was wir erschaffen können, zu begegnen, und Kunst und Erinnerung und Schönheit als eine Art Rache einzusetzen, um das Leben zu behaupten.
Ich wohne in der Nähe des Los Angeles Museum of the Holocaust, eine Institution, die für mich zum Prüfstein wurde: ein realer Ort, den ich besuchen konnte, um das Gewicht meines eigenen Vorhabens zu spüren.
Musik war ein weiteres zentrales Element meiner Recherche, auch wenn ich beim Schreiben keine Lieder des Widerstands oder aus den Ghettos hören konnte. Das Merkwürdige ist, dass es keinen einzigen Moment gab, in dem ich an meinem Schreibtisch saß und nicht weiterwusste. Ein Augenzeugenbericht führte zum nächsten, ein Bild setzte eine ganze Reihe anderer Bilder in Gang, und es flößte mir große Ehrfurcht ein, von so vielen Geschichten umgeben zu sein. Ich habe oft gedacht, dass eine der größten Herausforderungen des Buches sei, den Fokus zu verengen, weil es so vieles gab, über das ich schreiben wollte, so viel, das sich dringend, so viele Menschen, die sich wichtig anfühlten.
Primo Levi bringt seine Leser dazu, sich jedem Aspekt des Menschseins zu stellen: Verhalten, Krise, Bedeutung, aber auch Entmenschlichung und Verantwortung für seinen Nächsten. Dass er über seine Gefangenschaft in einer so kristallklaren, unberührten Sprache – der Sprache eines Wissenschaftlers – geschrieben hat, ist ein Wunder; dass er imstande war, sich diese Momente mit so bemerkenswerter Menschlichkeit zu bewahren, ist das andere. Und das sind nur zwei der vielen außergewöhnlichen Wunder, die sein Werk auszeichnen. Aber schließlich ist Primo Levi auch jemand, über dessen Einfluss zu sprechen mir schwerfällt; und sei es nur deshalb, weil ich kaum zusammenfassen vermag, was mir sein Leben, seine Gefangenschaft, sein Tod bedeuten. Seine Leiden scheinen unserer Zeit so fern, doch seine Bücher sind nach wie vor Monumente der Bedeutung, die ein Leben haben kann. Ich habe einen guten Freund, ein auf Traumata spezialisierter Psychiater – einer der wenigen, die von meinem Roman wussten –, und über die Jahre sannen wir oft über Levis Einfluss nach, über die unglaubliche Wucht seiner Worte. Wer sich mit der Frage beschäftigt, was einem Leben Bedeutung verleiht – für denjenigen sind Levis Worte Anlass, Fragezeichen und Erinnerung zugleich, die nach ihrer Ergründung verlangen. Als Erstes habe ich Die Atempause gelesen. Und ich erinnere mich, dass mich bereits die dem Buch vorangestellte Landkarte erschüttert hat: Sie zeichnete seine Odyssee nach, fort von Auschwitz und Richtung Italien. Es ist der Bericht eines Menschen, der befreit wurde, aber niemals wahrhaftig frei sein wird. Und selbst dann, wenn er lustige Momente oder seltsam bezaubernde Begegnungen auf seiner Heimreise beschreibt, klingt darin immer etwas anderes mit: das Wissen um das Scheitern der Welt, diese Myriaden von Menschen zu beschützen.

Bekannte Holocaust-Romane der jüngeren Gegenwart, wie Anthony Doerrs. „Alles Licht, das wir nicht sehen“ oder Jim Shepards „Aron und der König der Kinder“, haben Sie dagegen absichtlich nicht gelesen.
Es gab zwei Gründe für diese Abstinenz – die so extrem war, dass sie mir manchmal selbst lächerlich und fragwürdig vorkam. Zum einen befürchtete ich, dass die Bedeutung eines anderen Werkes in das einfließen könnte, was ich zu machen versuchte. Denn wenn man an einem Buch über den Holocaust schreibt, ein Ereignis, das uns zum Glück durch einen Chor von Stimmen überliefert ist, besteht die Gefahr, dass man leicht davon eingenommen und der eigene Ton, die eigene Richtung beeinträchtigt wird. Aus diesem Grund habe ich auch zahlreiche Filme gemieden und sah mir beinahe ausschließlich Dokumentationen an, sobald es mit dem Buchprojekt ernst wurde.
Zum zweiten, weil ich nicht gerade mit einem großen Selbstbewusstsein gesegnet bin, und weil Unsicherheit vor allem in dem gedeiht, was man liebt. Zeitgenössische Romane mit ihrer modernen Perspektive zu lesen, hätte unweigerlich bedeutet, meinen eigenen Ansatz zu sehr zu hinterfragen,. Als ich nach den letzten Überarbeitungen des Romans in die Bibliothek ging, war das daher eine große Sache – ich schwöre, dass ich meine Fingerspitzen vibrieren fühlte, als sie über die Rücken von Büchern wanderten, die ich nun tatsächlich lesen konnte, nach all dieser Zeit, in der mir die literarische Welt im Allgemeinen fremd geworden war. Als wäre ich wieder ein Kind, das lesen lernt, trat ich aus der jahrelangen Recherche und Versenkung in meine eigene Arbeit heraus. Und natürlich las ich dann gleich „Alles Licht, das wir nicht sehen“ und „Aron und der König der Kinder“ und noch viele andere, denn der Roman war fertig und damit sicher vor meinen eigenen, möglicherweise unbegründeten Ängsten.
Ein Großteil meines Erwachsenenlebens lässt sich in zwei Stränge aufteilen: Zeiten, in denen ich das Buch nicht schreiben wollte, und Zeiten, in denen ich nichts anderes tun konnte, als das Buch zu schreiben. Mir war bewusst, wie heikel die zweite Kategorie war, und ich tat alles dafür, um sie zu erhalten.

„Mischling“ – für Ihre englischen Leser muss sich dieser Titel fremd und unvertraut anhören. Warum haben Sie ihn gewählt und was bedeutet er genau im erzählerischen Zusammenhang des Romans?
Es ist ein beängstigender Titel. Ich stieß erstmals auf diesen Begriff, als ich noch klein war und in einem Wörterbuch blätterte. Zuerst faszinierte mich der Klang, der sich in meinen Ohren schön anhörte, beinahe melodisch. Und dann las ich, dass es ein Nazi-Wort war, um gemischtrassige Juden zu klassifizieren, und die Schönheit wurde grausig und furchterregend. Es enthält viele der Ambivalenzen, die für das Buch von Bedeutung sind. Vor allem diese: kam man als Mischling ins KZ, wurde man von Mengele geschätzt; man erhielt Privilegien und womöglich eine größere Überlebenschance. Doch diese Privilegien gingen natürlich mit fürchterlichen Schuldgefühlen einher und der Möglichkeit, diejenigen zu überleben, die man am meisten liebte. Stasia sieht sich im Laufe des Romans mit diesem Wort konfrontiert. Zuerst verwendet sie es als Verkleidung und Verteidigungsmaßnahme, als Trick, um an Mengele vorbeizuschlüpfen und sich und Perle Vorteile zu verschaffen. Später stellt sie sich unter diesem Begriff vor, was Mengele aus ihr gemacht hat: ein gänzlich verändertes Hybridenwesen, nicht länger ein Kind, sondern ein Wesen, dessen Blut sich aus Verlust und Hoffnung zusammensetzt. Und zum Schluss verwirft sie den Begriff vollständig, und denkt an eine Zukunft, in der er nicht länger existiert.
Ich konnte mir nie einen anderen Titel vorstellen, und war angenehm überrascht, dass meine großartige Verlegerin kein Wort darüber verlor. Sie konnte sich ebenfalls keinen anderen Titel vorstellen, obwohl es natürlich ein Risiko darstellte, den Roman unter diesem seltsamen, fremden Titel zu veröffentlichen. Jetzt bin ich erleichtert, dass wir ihn behalten haben, weil die Sprache meines Landes in letzter Zeit zunehmend verdorben und bösartig geworden ist, einen hasserfüllten Tonfall angenommen hat, von dem viele von uns gedacht hatten, dass er nie wieder, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, so schamlos hervorgekehrt würde, und noch viel weniger, dass Mitarbeiter der Regierung darin einfallen. Es gibt immer noch Leute, die behaupten, dass man mit Worten sorglos, ohne jeden Widerhall um sich werfen kann, und dass es Aufgabe der Öffentlichkeit ist, ihre Bedeutungslosigkeit zu erkennen, sich nicht beleidigen zu lassen, sie zu missverstehen oder grundlos davon aufgehetzt zu werden. Ich war nie dieser Meinung; Sprache wird immer das Potential einer Waffe haben – oder auch einer Zuflucht.

Stichwort Sprache: Sie gehören einer jungen Generation von Autoren an, die über den Holocaust schreiben, einer Generation, die ihn nur aus Büchern, Geschichtsstunden oder Erzählungen kennt. Was sind Ihrer Meinung nach die Besonderheiten, die damit einhergehen? Und was ist Ihre persönliche Antwort darauf, wie man über den Holocaust schreiben sollte?
Ich bin immer wieder überrascht, wenn mich jemand auf die große zeitliche Entfernung hinweist, darauf, dass ich mehr als dreißig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau geboren wurde. Es stimmt, dass ich mein Alter oft vergesse, dass ich kaum ein Gefühl für das laufende Jahr habe, doch es fühlt sich immer noch grauenhaft frisch an, nimmerfern. Immer, wenn mir Zweifel daran kommen, ob ich den richtigen Zugang habe, wenn ich so in meiner Arbeit versunken bin, dass sie meine Perspektive ganz und gar zu beherrschen scheint, bekomme ich einen Brief oder eine E-Mail, dass so viele Menschen mit dieser Geschichte im Rücken gelebt haben. Und dieses Bewusstsein wird in ihren Familien fortdauern, es wird durch die Generationen widerhallen, und zwar in so ohrenbetäubender Lautstärke, dass die Entfernung bedeutungslos wird.
Ich glaube, dass diejenigen von uns, die aus dieser großen zeitlichen Entfernung darüber schreiben, es aus einem Gefühl der Krise heraus tun müssen, einer Krise, die immer noch betroffen macht, und im Gedenken an die vielen Erzählungen und Gedichte, die wir nicht vergessen können. Es wäre dumm zu behaupten, dass mein Buch beispiellos, originell ist, weil es in vielerlei Hinsicht und oftmals kaum mehr als ein Echo unzähliger Dichtungen und Bücher ist – Werke, die aus eigener Erfahrung und Anschauung, von so viel größeren Denkern als mir geschrieben wurden, gesegnet mit Begabungen, die mir niemals vergönnt sein werden. Primo Levi. Paul Celan. Dan Pagis. Charlotte Saloman. Sara Nomberg-Prytzyk. Eli Wiesel. Das sind diejenigen, die in mir den Wunsch weckten, ganz von vorne anzufangen, den Glauben, dass Erzählen auch Wiedergewinnen sein könnte, und dass die Erinnerung lebt, zum Wohle der Vergangenheit und der Zukunft. Die Geschichte von Perle und Stasia kann nur als Gedenkroman funktionieren. Schon früh hatte ich seine Grenzen ausgelotet, und es waren diese Grenzen, die bald seine Ausrichtung festlegten. Es hätte ein ausschweifender Wälzer werden können – ich wollte lang und breit über den jüdischen Widerstand schreiben, das Tierzuchtprogramm der Nazis, den Warschauer Aufstand, über Nazi-Ärzte, über die ganze Vielfalt von Kunst und Ausdruck, die aus den Lagern erwuchs. Doch letztlich ging mir auf, dass im Zentrum des Romans die Beziehung zwischen Perle und Stasia steht, und all die anderen Elemente ordneten sich dahinter ein oder fielen weg auf eine Weise, die sich für mich recht unantastbar und vorherbestimmt anfühlte. Hätte ich diesen Instinkt ignoriert, mich ganz auf die Zwillinge und auf ihre Liebe füreinander zu konzentrieren – eine Liebe, die die Bindung innerhalb von Familien zeigen soll, die der Krieg auseinandergerissen hat –, hätte das Buch auch ziemlich schiefgehen können, wäre ein nichtssagendes Werk geworden, mit äußerst fragwürdigen Ambitionen. Ich hätte damit nicht leben können.
Doch letztlich, auch nach all diesen Jahren, kann ich nicht behaupten, zu wissen, wie man über den Holocaust schreiben soll. Weil es das Unaussprechliche ist. Weil es sich direkt der eigenen moralischen Infragestellung und Authentizität einpflanzt. Ich hatte dieses Buch jahrelang in der Schublade liegen, und kam erst darauf zurück, als ich das Gefühl hatte, es müsse geschrieben werden, und sei es nur, um nicht mehr an all die Geschichten denken zu müssen, die mich ununterbrochen beschäftigten. Ich wollte keine Grenzen überschreiten. Ich wollte niemandem huldigen. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, und meine einzige Antwort war, es ausschließlich für mich selbst zu machen. Und als ich feststellte, dass sich andere dafür interessierten, dass es veröffentlicht werden würde, zogen mich all die Fragen nur umso tiefer herunter, und ich musste sämtliche Wege, die ich in meinem Text gegangen war, an ihren Anfang zurückverfolgen.
Was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass es gewisse, genau umgrenzte Stolperfallen gibt, die ich nach Möglichkeit vermieden habe. Schreiben ist ein Akt der Phantasie und der Empathie, und wenn verlorene Menschenleben im Spiel sind, die du niemals kennen oder benennen werden kannst, und Menschen, die ihre Liebsten überlebt haben und immer noch von Qualen verfolgt werden, betrittst du trügerisches Terrain. Es gab viele Passagen, die ich wieder gestrichen habe, weil sie sich wie gefühlsmäßige Reaktionen auf einen Zeugenbericht anfühlten, den ich gelesen, oder ein Bild, das ich gesehen hatte. Ich glaube, es ist sehr viel wichtiger als bei anderen Büchern, dass der Autor hier von seinem Werk zurücktritt. Als das Buch herauskam, hat es mich ziemlich aufgeregt, dass eine der häufigsten Leserreaktionen die Frage war, wie ich persönlich mit dem Material umgegangen bin. Das tut nichts zur Sache und wird es auch nie. Was dagegen Bedeutung hatte, war, das Grauen auf eine Weise zu erklären, die das Leiden der Überlebenden nicht ausschlachtete, aber sich trotzdem ein Stück auf die Wahrheit zubewegte. Und eine sehr spezifische Justierung – was für den Leser erträglich ist vs. was die Erfahrung der Überlebenden und Opfer in Ehren hält – fühlte sich oftmals wie ein unlösbares Problem an; es ist eines der größten Fragezeichen von allen. Manchmal sind die Leute überrascht, wenn ich sage, ich rechne damit, dass das Buch infrage gestellt wird. Aber es ist richtig so, es sollte so sein.
Sogar jetzt noch, da das Buch fertig ist, weiß ich, dass sich weiterhin Geschichten in meinem Kopf ansammeln werden, gerade in dieser Zeit. Ich lebe in einem Amerika, das Flüchtlingen gegenüber auf einmal feindlich gesinnt ist, einem Amerika, das einst die Sicherheit meiner Vorfahren ermöglicht hat. Häufig schreiben wir, damit wir nicht mehr über die Ereignisse oder die Menschen nachdenken müssen, die uns am meisten beschäftigen. Nicht bei mir. Ich hatte großes Glück, Überlebende – und ihre Kinder – treffen zu dürfen, die mein Zögern spürten, wenn ich mit ihnen sprach. Eine der Überlebenden, eine Dichterin, die mit vier Zeilen mehr ausdrücken konnte als mein ganzes Buch, sagte, dass sie jahrelang Vorbehalte gehabt hätte, doch der wachsende Verlust von Augenzeugen mache die Fiktion notwendig. Ich solle aufhören, meine Lesungen damit zu beginnen, dass ich mich für meine Vermessenheit entschuldigte. Das war mir ein großer Trost, der größte, der mir in meinem ganzen Leben gespendet wurde, und ich stehe tief in ihrer Schuld. Ich denke an sie und an andere zurück, die sich in dieser Frage ähnlich geäußert haben, und das bringt mich immer wieder auf die eine Sache zurück, die ich mit Sicherheit sagen kann: wenn heutzutage jemand eine fiktive Geschichte über die KZs schreibt, glaube ich, dass angesichts der Fülle dessen, was bereits vor uns geschrieben wurde, die Menschen immer den Vorrang vor dem Ort haben, dass zwar die Mechanismen untersucht, die Verbrecher verurteilt und verdammt werden sollten, doch dass es vor allem die Verluste von Millionen sind, die im Vordergrund stehen müssen. Es ist nicht möglich, Gerechtigkeit anzuhäufen. Aber irgendetwas zu erschaffen, dass das Augenmerk von den direkt Betroffenen ablenkt, würde diese Ungerechtigkeit nur unverzüglich vertiefen. Man sollte schreiben, damit die Verlorenen zu Wort kommen – als Warnung, Klage und Erinnerung; oder wenigstens ist es das, was ich zu tun versucht habe.

Bücher

Newsletter
Newsletter